Blitzradikalisierung? Ein Einspruch

Kerzen an Gedenkstätte in Villach
Der Islam muss sein Gewaltproblem in den Griff bekommen. Ein Gastkommentar von Nina Scholz.

Vieles, was nach den tödlichen Anschlägen von München und Villach von Experten und Medien zu hören ist, klingt, als seien in erster Linie das Internet, insbesondere die Präsenz islamischer Hass-Prediger auf Tiktok für Radikalisierung von jungen Muslimen verantwortlich. Der Terrorismus-Experte Peter Neumann spricht gar von einer „ausschließlichen Radikalisierung im Internet“.

Dieser Sicht folgen aktuell auch die von einigen Politikern und Experten erhobenen Forderungen: Bessere Überwachungsmöglichkeiten, „anlasslose Massenkontrollen“, eine stärkere Regulierung von Social Media. Nun ist es kein Fehler, sondern vielmehr höchste Zeit, Gefährder besser zu überwachen und islamistischen Hasspredigern im Internet das Handwerk zu legen, aber es ist nicht mehr als ein frommer Wunsch, dadurch dem Hass gegen „Ungläubige“ und einer davon beflügelten Radikalisierung das Wasser abzugraben.

Blitzradikalisierung? Ein Einspruch

Nina Scholz

Die Ursachenanalyse bleibt oberflächlich, wenn sie die Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Terrors aus ideologischen Gründen vermeidet. Wir haben es mit einer im Mainstream des Islam verbreiteten Theologie der Abwertung und Gewalt zu tun. Der Münchner Attentäter verbrachte die ersten 15 Jahre seines Lebens in Afghanistan, einer Gesellschaft, in der eine fundamentalistische Variante des Islam normativ ist. Der Täter von Villach kam als 19-Jähriger aus Syrien, einem Land, in dem sich seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 ein radikaler Islam als Gegenspieler zum Assad-Regime in der sunnitischen Bevölkerung ausgebreitet hat. Laut einer Studie des PEW Research Center wünschen sich 30 % der Syrer, die 2015/16 in verschiedene umliegende Länder geflüchtet sind, einen theokratischen Staat, 18 % outeten sich gar als Unterstützer des IS. Viele islamische Terroristen sind nicht ohne Vorgeschichte, sondern wurden in einem Umfeld sozialisiert, das die Abwertung anderer, Intoleranz und eine Affinität zu Gewalt fördert.

Radikale Islamvorstellungen

Die Fokussierung auf Blitzradikalisierung im Internet ignoriert, dass in nicht geringen Teilen der Bevölkerung islamischer Länder und in einigen Milieus hiesiger islamischer Communitys Menschen von Kindheit an in ihrem unmittelbaren Umfeld mit radikalen Islamvorstellungen und gewaltfördernden oder gar -fordernden Traditionen in Berührung kommen. Sie ignoriert virulente islamische Prämissen und die ihnen inhärente Abwertung anderer Lebensweisen und Kulturen, die einen Nährboden darstellen, auf dem radikal-islamische Influencer aufbauen können.

Statt über den Elefanten im Raum – gewaltfördernde, bis heute als vorbildlich geltende Inhalte der islamischen Überlieferung – diskutieren wir aktuell über die Gefahren der sozialen Medien. Das mag neben ideologischen Gründen auch der Angst vor dem Vorwurf der Islamfeindlichkeit und „Islamophobie“ geschuldet sein. Dem gemeinsamen Kampf gegen eine historisch neue Form des Extremismus war das jedenfalls nicht zuträglich. Inzwischen hat sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert, was zunehmenden Unmut in großen Teilen der Gesellschaft hervorruft.

Seele des Islam

Ein politisierter Islam, der Nicht- und Andersgläubige abwertet, die islamische Gewaltgeschichte glorifiziert, im Islam die normative Ordnung für Staat und Gesellschaft erblickt und Dschihad und Märtyrertum verherrlicht, zeigt sich nicht nur in mehrheitlich islamischen Ländern, sondern auch in Teilen muslimischer Communitys in Europa. Er wird auch in hiesigen Moscheen immer wieder gepredigt und spiegelt sich in Umfragen wider. Der 2011 verstorbene Gründer der Milli-Görüş-Bewegung, Necmettin Erbakan, sagte, der Dschihad sei „die Seele des Islam“. Milli Görüş stellt in Österreich und Deutschland den zweitgrößten Moscheeverband.

Die gesellschaftliche Debatte sollte sich mit den gewaltfördernden religiösen Inhalten im Islam auseinandersetzen. Terroristen können ihre Propaganda auf diesen aufbauen. Hier ist auch die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), in die Pflicht zu nehmen. Lippenbekenntnisse, in denen nach jedem Anschlag betont wird, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun, reichen nicht aus. Vielmehr ist die IGGÖ aufgerufen, sich von einer Theologie der Abwertung alles „Unislamischen“ und der Gewalt zu lösen. Kurz gesagt, der Islam muss sein Gewaltproblem in den Griff bekommen.

Nina Scholz ist Politikwissenschaftlerin und Autorin.

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