Armutsbetroffene als faul hinzustellen, ist ein schweres Foul

Menschen in Armut sind permanent Stress, Scham und Ängsten ausgesetzt
Eine Replik von Caritasdirektor Klaus Schwertner auf den Leitartikel „Wo bleibt die Selbstverantwortung?“ vom 11. Mai.

Die gute Nachricht zu Beginn: Der österreichische Sozialstaat wirkt und schützt viele Menschen vor dramatischen Armutssituationen. Gleichzeitig ist Armut auch ein Stück Realität im vergleichsweise wohlhabenden Österreich. Eine steigende Anzahl von Menschen ist massiv von Armut betroffen, insbesondere Alleinerziehende sowie arbeitslose und chronisch kranke Personen. Was ein Leben in Armut bedeutet, haben wir als Caritas bereits im vergangenen Jahr gemeinsam mit Foresight mit der Studie „Unterm Radar“ aufgezeigt, für die Menschen, die in unserer Sozialberatungsstellen in Wien und Niederösterreich kommen, befragt wurden. Das sind Menschen, die sich nicht regelmäßig eine ausgewogene warme Mahlzeit leisten können (76% der Befragten), die kein Geld haben um abgetragene Kleidung zu ersetzen (70%) oder ein zweites Paar Schuhe zu kaufen (47%). Menschen, die nie auf Urlaub fahren (90%), im Winter in ihren Wohnungen frieren (72%) und hoffen, dass die Waschmaschine nicht kaputt wird (95%). 

Wer diese Fakten benennt, dem wird gerne Alarmismus vorgeworfen. Obwohl von Maßnahmen, die die Kluft zwischen Arm und Reich reduzieren, alle Menschen in unserem Land profitieren würden.

INTERVIEW: CARITASDIREKTOR DER ERZDIÖZESE WIEN KLAUS SCHWERTNER

Klaus Schwertner

Dass im letzten Jahr noch einmal mehr Menschen in Not geraten sind, sehen wir nicht nur in unserer täglichen Arbeit. Wir sehen es in den aktuellen EU-SILC Armutszahlen der Statistik Austria. Nach Jahren der Dauerkrise sind 336.000 Menschen massiv von Armut betroffen. Um 130.000 Personen mehr als noch im Jahr davor. Damit nicht genug: Eine Studie der Gesundheit Österreich GmbH zeigte, dass rund 420.000 Menschen von schwerer Ernährungsarmut betroffen sind.

Was sich diese Menschen wohl denken, wenn sie in einem Leitartikel beinahe pauschal als verantwortungslos beschrieben werden? Wenn ihnen gesagt wird, sie sollen Kartoffeln mit Butter kochen, das sei billig und gesund. Ich musste an die Frau eines Ex-Finanzministers denken, die meinte, Arme sollen doch auf ihren Balkonen und Terrassen Gemüse anbauen. 

Für Betroffene fühlen sich solche Ratschläge oft mehr wie Schläge an. Weil Menschen in Armut ohnehin permanent Stress, Scham und Ängsten ausgesetzt sind. Weil ihnen oft das Gefühl gegeben wird, sie seien selbst schuld, wo wir doch wissen, dass Armut ein strukturelles Problem ist.

Ich bin mir sicher: Die Eltern der 88.000 Kinder, die in Armut aufwachsen, wünschen sich mehr für sie. Ja, (Finanz-)Bildung als Hilfe zur Selbsthilfe und Erwerbsarbeit sind wesentliche Hebel zur Armutsbekämpfung, wie im Leitartikel richtig benannt. Die Kinderbetreuungsoffensive der Regierung ist ein guter erster Schritt. Weitere müssen folgen. Etwa die Einführung einer echten Grundsicherung für alle, die eine Untergrenze für menschenwürdiges Leben darstellt, anstelle einer Sozialhilfe, die Obergrenzen definiert. Und umfassende Gesundheitsversorgung sowie Zugang zu inklusiver Bildung für alle Kinder. Zumindest Kinderarmut sollte irgendwann nur noch in Geschichtsbüchern zu finden sein. Es bleibt ein Bohren harter Bretter, vor allem beim Abbau von Vorurteilen.

Klaus Schwertner ist Caritasdirektor der Erzdiözese Wien.

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