Es gibt keine Meinungsdiktatur, sondern das Gegenteil davon

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Das Vertrauen in die Instanzen ist in der gesamten Gesellschaft unter Druck. Der mündige Bürger muss aufpassen, sich nicht zu verlaufen.
Georg Leyrer

Georg Leyrer

Leicht machen sie es einem nicht, jene Instanzen, bei denen man für das investierte Vertrauen Gewissheit eintauschen will. Die Regierung ließ wochenlang deutlich wissen, was alles verboten ist; es war es dann halt nicht. Die Wissenschaft war anfangs sicher, dass Masken sinnlos sind; sind sie aber nicht. Die Wirtschaftsprüfer waren supersicher, dass das Burgtheater, Wirecard und die Commerzialbank hochweiß seien; nun ja.

Die letzten Tage begleitete genau dieses Gefühl: Wenn man mit dem staatsbürgerlichen Finger nur fest genug zusticht, stößt man früher oder später auf Schaumstoff. Sicherheiten werden von denjenigen, die den Staat, die Wirtschaft, das Leben bestimmen, mit viel Trara behauptet – und nicht eingelöst. Und die, die all das kontrollieren sollten – Opposition, Wirtschaftsprüfer und so weiter –, zeigen sich auch von ihrer Schaumstoffseite. Da reicht dann schon eine Wurstsemmel für die Umkehr der Verhältnisse: Die Kontrollierten kontrollieren den öffentlichen Diskurs. Und wer kontrolliert gleich noch mal die Kontrollierenden?

Das alles zahlt leider in eines der verheerendsten Phänomene der durchdigitalisieren Meinungsgesellschaft ein: Immer mehr Menschen verlieren ihr Vertrauen in die Instanzen des Gesellschaftsgefüges. Und glauben dann einfach das, was ihnen passt, und suchen sich den, der ihnen das auch sagt. Vorhandene Fakten werden beiseite gewischt, Autoritäten wie Medien, Politik, Wissenschaft werden als Orientierungspunkt abgeschafft.

Man verläuft sich – zumeist im Internet – schamlos und ungehindert bis in die abstrusesten Ecken: Die Erde ist flach (ja, es gibt Menschen, die das ernsthaft glauben), Corona nur eine Grippe, die ganze Welt eine Verschwörung, von Ausländern und Putin und all dem gar nicht zu reden. Wild wuchern die Überzeugungen, und keine gemeinsame, geteilte Basis fängt sie wieder ein.

Wir leben nicht in der oft raunend beschworenen Meinungsdiktatur, sondern im Gegenteil: in einer weltanschaulichen Totalauflösung, in der jede noch so absurde Meinung gleich viel zählt.

Es ist aber auch wirklich ein Dilemma, wenn sich jede Sicherheit bei näherer Betrachtung verflüchtigt oder man damit rechnen muss, dass das, was heute gilt, morgen ins Gegenteil umschlägt. Wenn eine Art letztinstanzliche Gewissheit abgeschafft scheint, findet sich der mündige Bürger – brav aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit entstiegen – in einem unentwirrbaren Dschungel von Ideen, Behauptungen, Möglichkeiten. Und es fehlen ihm Werkzeuge, diese zu bewerten. Dass der Einzelne die Welt besser durchschaut als alle anderen zusammen – vor allem die Experten –, ist ein weitverbreiteter, aber unsinniger Irrglaube. Ein Irrglaube, der aber dann leicht entsteht, wenn einem Vertrauen unzulässig schwer gemacht wird.

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