Demokratie ist nie generalsaniert

++ HANDOUT ++ STATEMENT BUNDESPRÄSIDENT ALEXANDER VAN DER BELLEN
Auch überzogene Erwartungen und permanente Moralisierung des politischen Diskurses schaden der Demokratie.
Rudolf Mitlöhner

Rudolf Mitlöhner

„Benenne die Politik, die nicht scheitern wird“, hat Peter Sloterdijk vor längerer Zeit einmal, in einem Streitgespräch mit Oskar Lafontaine, als „Denkaufgabe“ formuliert. Diese „Denkaufgabe“ ist seither gewiss nicht leichter geworden, im Gegenteil. Und man möchte sie noch auf die politischen Akteure ausweiten: „Benenne den Politiker, der nicht scheitern wird.“

Denn der Verschleiß des politischen Spitzenpersonals ist ganz offensichtlich enorm, nicht nur in Österreich. Es gibt Langzeitpremiers wie Viktor Orbán oder bis vor einem Jahr Angela Merkel – aber viele Länder sind zurzeit (manche freilich immer schon) politisch tendenziell instabil: Von Italien über das Vereinigte Königreich, Tschechien, Bulgarien bis hin zu Israel; und nach Donald Trump könnte auch Joe Biden nur eine einzige Amtszeit als US-Präsident beschieden sein (wobei Letzterer möglicherweise schon nach den bevorstehenden Midterm Elections nur noch als lame duck durch die Lande ziehen wird).

Die Gründe dafür sind im Einzelnen gewiss sehr unterschiedlich. Aber generell lässt sich sagen: In unseren social-media-gesteuerten Erregungsgesellschaften mit ihrer Mischung aus Wehleidigkeit und Saturiertheit, aus übersteigerten Erwartungen und gelangweilter Gleichgültigkeit kommt der Job eines Spitzenpolitikers immer mehr der Quadratur des Kreises gleich.

Den führungsstarken, visionären und doch geerdeten, rhetorisch und intellektuell brillanten, souverän auftretenden, dabei dennoch bescheiden und frei von Eitelkeiten agierenden Politiker, gerne auch noch mit untadeligem Familien- und Privatleben, gibt es halt eher selten. Fehltritte, verunglückte Sager, widersprüchliche Aussagen werden nicht verziehen, sondern – zumal bei Politikern rechts der Mitte – in Endlosschleife präsent gehalten. Auch da mag man sich bisweilen denken: „Das darf doch alles nicht wahr sein“ (© Alexander Van der Bellen).

Die skizzierte Gemengelage führt dann beispielsweise dazu, dass gewiss nicht fehlerlose, aber weit über das Mittelmaß hinausragende, sehr unterschiedliche Politikerpersönlichkeiten wie Boris Johnson als britischer Premier oder Sebastian Kurz als Bundeskanzler – vorzeitig abtreten.

Der Bundespräsident fordert eine „Generalsanierung“ des „ganzen Gebäudes“ unseres politischen Systems. Das ist angesichts der im Raum stehenden Vorwürfe nachvollziehbar. Aber wir brauchen dabei auch eine gewisse Gelassenheit. Demokratie wird nie „generalsaniert“ sein – auch die permanente, zumal ideologisch einseitige Moralisierung der Politik trägt zu jener Politikverdrossenheit bei, die zu bekämpfen sie vorgibt.

Demokratie ist nie generalsaniert

Rudolf Mitlöhner ist Innenpolitik-Redakteur.

Kommentare