Nehammer, oder der Ton macht die Musik besser als der ORF
Dass der neue Bundeskanzler Karl Nehammer die Sache etwas anders angeht als sein Vorgänger Sebastian Kurz, durfte man schon nach den ersten Pressekonferenzen und Zeitungsinterviews erahnen. Das erste große TV-Interview hat Nehammer genutzt, um diesen Eindruck zu verfestigen oder sogar zu verstärken. Im ungewohnten Doppel von Gebührenfunk und Privat-TV (ORF und ATV/Puls 4) zeigte sich Nehammer von einer ganz anderen Seite als sein Vor-Vorgänger Kurz. Er wog bei bestimmten heiklen Fragen ab, ließ weniger Ideologie durchblitzen, aber plötzlich war da etwas, was relativ neu war: Hausverstand - mit Humor und historischem Wissen.
Damit gelang es dem neuen Bundeskanzler heikle Klippen zu umschiffen, in die er vom Duo Corinna Milborn und Armin Wolf gelotst worden war. Bei der Frage nach einem neuen Lockdown, nach dem Zustand der Koalition und selbst bei dem bei Journalisten (aber gar nicht bei der Masse) am meisten brennenden Thema der historischen Einordnung von Engelbert Dollfuß blieb er leichtfüßig und authentisch. Einen Lockdown ausschließen könne niemand, im Pandemiemanagement solle man schneller agieren und mehr auf die Experten hören, die Koalition hat eine Mehrheit und hält - und klar war Dollfuß ein Austro-Faschist, aber es gab eben auch Austro-Marxisten, und Dollfuß wurde von den Nazis grausam ermordet. Nehammer schien sich von seiner Linie nicht und nicht abbringen zu lassen. Jetzt werden viele vielleicht behaupten, er habe in bestimmten Fragen keine eindeutige. Meist sind das jedoch jene, die vier Wochen später das erste Abweichen von einer fix eingenommen Linie wieder furchtbar kritisieren.
Nehammer zu CoV- Politik und U-Ausschuss
Sebastian Kurz hatte mit seinem Stil die ÖVP auf 37 Prozent geführt. Davon ist Nehammer weit entfernt. Aber er scheint nach dem wenig ruhmreichen Abgang des Ex-Kanzlers eine echte Alternative zu sein. Oder anders gesagt: Der Ton macht die Musik.
Apropos Ton: Dass ORF und Puls 4 zu Beginn des Interviews massive Tonprobleme hatten, soll nicht unerwähnt bleiben. Hätte der Kanzler nämlich ebensolche Probleme bei seinen Äußerungen gehabt, würde das bei seinen Kritikern alle inhaltlichen Fragen überlagern. Gerade beim hochstilisierten ersten TV-Interview des Kanzlers hätte man mehr Professionalität erwarten dürfen. Und dass der gebührenfinanzierte ORF nach dem Interview Werbespots vor dem täglichen Filzmaier-Kommentar spielte und der werbefinanzierte Privat-TV-Sender ATV/Puls 4 ohne Werbung in eine spannende Analyse ging, muss ebenso gesagt werden. Denn jede Säule der Demokratie muss in Zeiten wie diesen Kritik aushalten können.
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