Alle Menschen san sich zwider oder: Wer kann sich noch benehmen?

Alle Menschen san sich zwider oder: Wer kann sich noch benehmen?
Drängeln, poltern, ohne jede Rücksicht durchs Ego-Leben gehen – schlechtes Benehmen ist leider die neue Normalität. Ein Leidartikel.
Gert Korentschnig

Gert Korentschnig

Die Ballsaison ist voll im Gange, und Österreich zeigt wieder geballt, was es traditionellerweise am besten kann: gastgeben, charmant sein, musizieren, die Probleme der Welt für ein paar Stunden wegtanzen – und zwischendurch ein paar Glaserln trinken. Dass die Walzerseligkeit, die getanzte Form der Sozialpartnerschaft, abseits des Ballsaals gerade nicht so rund läuft, wen kümmert das schon.

Ballsaison heißt aber auch gelebte Etikette, gutes Benehmen bis hin zum Handkuss, der mittlerweile zur Redewendung verkommen ist: Wieso sollen eigentlich wir zum Handkuss kommen, nur weil die Welt verschnupft ist? Beherrschen tut den korrekten Handkuss seit Haider, also dem Alfons, ohnehin niemand mehr.

Aber reden wir bei dieser Gelegenheit nicht von den auf die Spitze getriebenen Ausformungen menschlichen Umgangs miteinander, sondern von den profanen Alltagsbegegnungen. Und da fällt die (subjektive) Analyse verheerend aus: Es ist desaströs, wie egozentrisch sich ein großer Teil der Menschen durch den öffentlichen Raum bewegt, ohne Rücksicht auf das Gegenüber, wie Bulldozer, die über alles drüberfahren, was sich in den Weg stellt.

Kaum jemand lässt anderen bei Türen noch den Vortritt; in Öffis drängt man sich rein, ohne Fahrgäste zuerst aussteigen zu lassen; älteren Personen wird der Sitzplatz freilich nicht überlassen; auf der Straße werden die Menschen zu Smombies, also zu Zombies mit Smartphones, schauen nicht auf und rennen jeden nieder; überhaupt das Handy: die Videos, auf die man keine Sekunde verzichten kann, sind so laut, dass sich jeder Normalhörende an den Kopf greift; es wird geniest, ohne sich Elle oder Taschentuch vorzuhalten, und auch gespuckt . . . jeder geneigte Leser könnte diese Liste beliebig weiterführen.

Besonders schlimm ist die oft mit einem solchen Verhalten einhergehende Aggressivität: Wenn sich jemand gegen schlechtes Benehmen empört, dann gnade ihm Gott. Rüpelhaftigkeit wird also nicht nur toleriert, sondern sogar belohnt, aber das ist auch in den sozialen Medien so. Früher einmal bekam man für Bildung und Benehmen Likes, heute ist es umgekehrt.

Nun hat Österreich natürlich den Wiener Grant oder die Tiroler Widerborstigkeit kultiviert, aber davon ist hier nicht die Rede. Der Grant ist eine Kulturform, die auf der Auslotung der Etikette basiert. Wer grantelt, weiß im Grunde, wie man sich zu benehmen hat.

Was sich jedoch zur Zeit entwickelt, ist ein schlimmer Trend zu Ich-AGs im Manspreading-Stil und auch eine Form von Long Covid: In der Coronazeit haben viele Menschen gelernt, ihre Mitmenschen als gefährlich zu kategorisieren, entweder gesundheitlich oder politisch. Alle Menschen san sich zwider – wenn wir im Kleinen aus dieser Spirale nicht herauskommen, schaffen wir es im Großen schon gar nicht.

Alle Menschen san sich zwider oder: Wer kann sich noch benehmen?

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