Ein Baumstamm im Wald ist mit Moos und Baumpilzen bewachsen.

Wenn in Österreich ein Urwaldriese fällt

Das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal und sein Urwald überraschen mit immer neuen Einblicken in seine Artenvielfalt.

Von Marianne Enigl 

Der Sturm tat, was der Mensch in dem unzugänglichen Urwald „Rothwald“ über Jahrtausende nie vermochte und was heute strengst untersagt ist: Im vergangenen Sommer fällte er einen Baum-Methusalem mit dem gewaltigen Stammumfang von beinah vier Metern.

Im Urwald im niederösterreichisch-steirischen Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal werden viele Bäume bis zu 500 und 600 Jahre alt. Einige leben sogar doppelt so lang. Da im wertvollen Schutzgebiet jeder menschliche Eingriff verboten ist (selbst am Rand des Urwalds müssen heuer wegen eines für Molche und Salamander gefährlichen Pilzes die Schuhe von Besuchern biologisch desinfiziert werden), war die natürlich gestürzte Urwaldtanne der erste gesunde Baum, der hier je untersucht werden konnte, und ein Glücksfall für die Wissenschaft.

Die Ergebnisse sind beeindruckend. Die Flechtenexperten Franz Berger und Othmar Breusss entdeckten an dem mächtigen Stamm mehr als 70 Flechtenarten und Kleinpilze – die zweithöchste bisher auf einem einzigen Baum in Mitteleuropa gefundene Anzahl. Eine Art, die auf Madeira vorkommt, fand sich hier überhaupt erstmals in Mitteleuropa. Der so vielfältige Flechtenmantel zeugt von der Biodiversität und dem besonderen Mikroklima unter dem dichten Kronenschirm dieses letzten Urwalds im Alpenbogen. Hier herrschen ein für alle Arten überaus fruchtbares organisches Bodenleben, hohe Luftfeuchtigkeit, gedämpfte Temperaturen. Es ist eine intensive grüne Welt – völlig anders als in den hitze- und dürregeplagten Wäldern, die zunehmend mehr CO2 abgeben als speichern.

Junge Bäumchen sprießen auf einem bemoosten Baumstamm im Wald.

Junge Buchenbäumchen im österreichischen "Urwald": „Wildnis rückt uns Menschen aus dem Mittelpunkt des Universums“, sagt Ranger Reinhard Pekny.

©WGDL NÖ/Hans Glader

Flechten leben als Gemeinschaft von Pilz und Alge nur von Luftfeuchtigkeit und Energie aus Sonnenlicht. So nehmen sie alle Luftschadstoffe auf und sind sensible Indikatoren für die Qualität von Lebensräumen. Die bekannten Bartflechten hat jedoch auch der Urwald durch Immissionen bereits fast verloren.

Ein Ast ist mit Bartflechten bewachsen.

Im Wildbach fanden Forscher die überaus seltene Flechte Pyrenocarpon theleostomum, die Bartflechten (im Bild) hingegen sind fast verschwunden. 

©Credit Fehlt

Noch verfügt das Wildnisgebiet, seit 2017 UNESCO-Weltnaturerbe, über unglaublichen Artenreichtum. So staunten die Forscher auf einem Felsen im Lassingbach – einem der letzten unberührten Wildbäche – über den Fund einer Flechte, die in den USA und europaweit erst acht Mal nachgewiesen ist. Und aus dem Bericht von Projektleiter Wolfgang Stark über die jüngste Erhebung der Großfalter spricht die Freude über den „prächtigen und größten Bär in Österreich“. Gemeint ist der „Augsburger Bär“, eine von 480 hier lebenden Großschmetterlingsarten.

Ranger Reinhard Pekny hat die Bedeutung all dessen einmal so ausgedrückt: „Wildnis rückt uns Menschen aus dem Mittelpunkt des Universums und macht uns zu einem stillen Beobachter, der seine Begehrlichkeiten zurücknimmt und allen Abläufen der Natur das Recht auf Selbstbestimmung zuspricht.“

Mehr Informationen unter www.wildnisgebiet.at

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