Zum Lichterfest nach Indien: Erleuchten und verbrennen

 Bad im Ganges
Indien als Konzentrat: Die heilige Stadt ist ein Ort, der jede Fantasie über den Subkontinent zu bedienen vermag. Zum Lichterfest „Dev Diwali“ erlebt alles noch einmal eine Steigerung.
  • Varanasi ist eine heilige Stadt mit tiefen spirituellen Wurzeln. Sie ist bekannt für ihre Tempelanlagen und das Ganges-Ufer. 
  • Dev Diwali ist ein großes Lichterfest. Es zieht viele Gläubige und Touristen an. Die Stadt erstrahlt in Lichtern und Zeremonien, die eine besondere Atmosphäre schaffen.

Heilige Städte halten für Reisende meist erhebliche Tücken bereit. Sei es, dass ihre Straßen von Touristen und Pilgern komplett überfüllt sind (Rom), Anders- und Nichtgläubige konvertieren müssen, um sie betreten zu können (Mekka), oder die Bewohner derart im Streit leben, dass man sich als Unbeteiligter die Anreise vielleicht noch einmal überlegt (Jerusalem). Dass ausgerechnet Indiens heiligster Ort frei von Zumutungen sei, kann vor diesem Hintergrund niemand erwarten. Allerdings sind Zumutungen in einem Land wie Indien relativ. „Wer in Indien Geduld hat, verliert sie. Und wer keine Geduld hat, lernt sie“, lautet ein Entspannungsmantra, das man auf dem Subkontinent im geistigen Gepäck stets dabei haben sollte. Umso schöner, dass dieses Mantra 2024 auch auf angenehme Weise enttäuscht werden kann. Der Schnellzug Vande Bharat 22435, der auf dem Hauptbahnhof von Neu-Delhi zur Fahrt nach Varanasi wartet, ist ein Ausbund an Modernität, Komfort und – ja, auch das – Pünktlichkeit.

Technologie und Realität

Die seit 2019 auf mittlerweile sechzig Langstrecken verkehrenden Vande-Bharat-Züge sind der neue Stolz der Eisenbahn-Nation Indien, ein Symbol für die Ankunft des Landes im 21. Jahrhundert. Im klimatisierten Luxus erster Klasse mit Beinfreiheit und vakuumverpackter Vollverpflegung wird schnell klar, wer diesen Fortschritt für sich reklamiert. Auf einem Flachbildschirm des Großraumabteils präsentiert sich Premierminister Narendra Modi, der in Endlosschleife Bahnhofshallen betritt, Bahnbeamte begrüßt und einrollende Züge segnet – einprägsame Botschaften, die sich in neunstündiger Fahrt nachhaltig ins Bewusstsein der Wähler einbrennen. Das Bemühen der Regierung, das Land als Hightech-Nation in dynamischem Aufbruch zu präsentieren, ist überall spürbar. Doch stete Verweise auf neue Flughäfen, Autobahntrassen und Technologieparks können nicht verbergen, dass die indische Wirklichkeit oft nur eine schmale Gasse entfernt liegt.

Als Vande Bharat 22435 spätabends am Bahnhof von Varanasi eintrifft und schwülwarme Luft durch die sich öffnenden Türen dringt, fällt der Blick auf einen Bahnsteig voller Menschen, die diesen Zug niemals von innen sehen werden: campierende Familien, Straßenhändler, Teeverkäufer, Rikscha-Fahrer, junge Mütter mit kleinen Kindern. Die Ankommenden steigen über sie hinweg, schieben an ihnen vorbei, drängen zwischen Körpern und Paketen Richtung Ausgang.

An heiligen Ufern

Doch egal wer man ist und woher man kommt, in Varanasi zu sein, bedeutet bereits Glück genug. Oder zumindest eine Vorstufe davon. Wer hier betet, wird von den Göttern leichter erhört als anderswo. Wer hier im Fluss badet, findet eher Vergebung als an anderen Orten. Und wem es hier beschieden ist zu sterben und verbrannt zu werden, ist der ultimativen Seligkeit schon ziemlich nahe. Varanasi, „the city of learning and burning“, einst Kashi, später Benares genannt, ist alt, so alt, dass niemand genau weiß, wie alt es wirklich ist. Die einen verweisen auf eine Dynastie um 1200 vor Christus, die anderen auf das dritte vorchristliche Jahrtausend. Herrscher und Heilige kamen und gingen, Tempel wurden erbaut und verfielen, kippten ins Ganges-Hochwasser oder wurden zerstört. Buddha ist in der Gegend umhergezogen, muslimische und britische Heerführer, schließlich Sinnsucher und Aussteiger aus aller Welt. Große Spuren haben nur wenige hinterlassen. Die Stadt hat alles stoisch über sich ergehen lassen. Mehr als alles andere ist Varanasi die Stadt Shivas – des Gottes der Zerstörung, der allein durch seinen Tanz ganze Universen erschaffen und zertrümmern kann.

Anreise 
Wien–Delhi direkt mit Air India oder via Zwischenstopp mit Turkish, Lufthansa, KLM. -Kompensation 67 €, via atmosfair.de. Weiterfahrt ab Delhi mehrmals wöchentlich mit Expresszug Bhande Vharat 22435 in 9 Std. bis Varanasi (Ticket 1. Kl. ca. 40 €). Online-Vorausbuchung ist zu empfehlen, auch in Delhi über eine Reiseagentur möglich.

Reisezeit
Klimatisch günstig sind Okt. und Nov.  Diwali wird vom 20. 10. bis 8. 11. begangen. Das Dev-Diwali-Fest wird nur in Varanasi gefeiert, am 5. 11.

Unterkunft
Akzeptable Zimmer ab 20 €.  Das B&B Golden River Guest House nahe Shivali Ghat ist ein gutes Budget-Haus. Feiner ist das Panchkote Raj Ganges mit Garten und Dachterrasse.

Wer über solche Götter verfügt, betrachtet die Welt in größeren Dimensionen und in anderen Zeiträumen. Lord Shiva ist unvorstellbare Energie. „Sie haben Glück, dass sie vorab gebucht haben“, sagt der freundliche Besitzer des Golden River Guest House beim Check-in. „Übermorgen ist hier Dev Diwali, das große Lichterfest. Dann platzt die Stadt aus allen Nähten.“ Gut zu wissen. Allerdings bekommt man den Eindruck, dass das auch so bereits der Fall ist. Wer den von Autos, Mopeds, Menschen und Kühen überfüllten Straßen entgehen will, flieht an den Ganges und zu den Ghats. Die über siebzig Tempelanlagen und Badestellen entlang des Flusses sind das spirituelle Kraftzentrum der Stadt, eine eineinhalb Kilometer lange Uferzone, an der es sich frei von Verkehrslärm und Stadtmüll entspannen und flanieren lässt. Der ausgiebige Flussspaziergang unterhalb der Tempelanlagen bietet ideale Möglichkeiten, dem Geist der Stadt auf die Spur zu kommen. Inder sind kommunikationsstarke Leute, und wer das nicht scheut, erfährt in kürzester Zeit was sie bewegt und beschäftigt.

Frau steht betend im Ganges

Momente der Ruhe: Einsamkeit ist in Indiens heiligster Stadt schwer zu finden.

Da ist die Truppe begeisterter Hindu-Fundamentalisten, die von Führung, Nation und Reinheit schwadroniert. Der junge Einzelgänger, der vor dem elterlichen Heiratsdruck flieht und nach Inspiration für ein freieres Leben sucht. Die vermögenden Ex-Pats aus Sydney und London, die die Spiritualität ihrer Heimat umso stärker vermissen, je länger sie fort sind. Oder der alte Mann, der die tägliche Fütterung der herrenlosen Hunde als Gottesdienst betrachtet.

Hinduismus ist ein offenes Konzept mit einem breiten Spektrum an Inhalten und Praktiken, die sich vermutlich nirgendwo besser erschließen lassen als hier. Die Eintrittsbarrieren für Fremde sind gering, zumal wenn man ein wenig Geld hat, das hier trotz aller Konkurrenz so vergöttert wird wie an jedem anderen Ort. Man kann sich in einen Aschram einmieten und unter Anleitung zu meditieren beginnen. Man kann einen studierten Astrologen bezahlen und sich mittels Geburtsdaten oder Handinnenflächen die Zukunft deuten lassen. Oder man teilt einfach einen Joint mit einem der vollbärtigen Asketen, den Sadhus, und überlegt, wie man Heilige von Scharlatanen unterscheidet. Die Antwort sei hier nicht verraten.

Sadhus in Varanasi

Ganz entspannt im Hier und Jetzt: Für Indiens Sadhus zählt Varanasi zur ersten Adresse.

Während die geistigen Räume von weit bis unendlich reichen, bleibt das Soziale von Hierarchie und Exklusion verengt. Das gilt nicht nur mit Blick auf das allgegenwärtige Kastensystem, sondern auch für das Geschlechterverhältnis. An den offenen Krematorien von Manikarnika Ghat und Jalsai Ghat, wo auf groben Holzscheiten täglich mehrere Hundert Leichen verbrannt werden, ist Frauen der Aufenthalt verboten.

In zwei offenen Krematorien verbrennen Leichen

Die Feuer gehen niemals aus. In zwei offenen Krematorien verbrennen täglich bis zu 200 Leichen.

Ausländische Touristinnen sind ausgenommen, doch selbst Schwestern, Mütter und Töchter der Verstorbenen müssen fern bleiben: „Frauen sind viel emotionaler als Männer. Sie weinen und klagen und ihre Tränen sorgen dafür, dass die Seele des Toten die Welt nicht verlassen kann und unnötig aufgehalten wird. Das stört den gesamten Prozess“, erklärt ein Arbeiter an der Feuerstelle. Varanasis brennende Leichen faszinieren oder verstören, bleiben aber in jedem Fall in Erinnerung. Der Schein der Flammen leuchtet dramatisch in der Nacht, doch bei einem Pappbecher Zitronentee auf einer Bank nahe der Feuerstellen schrumpft alles wieder auf ein fast diesseitiges Maß. Während hier einst strengstes Fotografierverbot herrschte, hat die Religion inzwischen vor der digitalen Übermacht kapituliert. Wer sich traut, fotografiert und filmt ungestört drauf los. Ohnehin dürfte es mit der Magie des Ortes bald vorbei sein.

Ziege frisst Blumenschmuck

Zwischenmahlzeit: Der Blumenschmuck für die Toten dient später noch als Tierfutter.

Wenn der Wille der Regierung umgesetzt wird, weichen die improvisierten Feuerstellen bald einem modernen Krematoriumskomplex, der auf Plänen so aussieht wie eine Kreuzung aus Shoppingcenter und Tiefgarage. Die Stadt wird auch das überleben. Doch wer eines der eindrucksvollsten Rituale dieses an eindrucksvollen Ritualen keineswegs armen Landes in natürlicher Umgebung erleben will, sollte sich beeilen.

Flammen und Lichter

Zwei Tage später beginnt Dev Diwali. Das eintägige Lichterfest geht auf eine Legende zurück, die vom Sieg Shivas über drei Dämonen erzählt, doch das scheint an diesem Tag eher nebensächlich. Schon kurz nach Sonnenaufgang ist das Ufer übersät von Gläubigen, die zum Bad im heiligen Ganges drängen, während auf dem Fluss Tausend große und kleine Ausflugsboote fast aneinanderstoßen. Nach Einbruch der Dunkelheit sind Uferplätze und Tempeltreppen bedeckt von Menschen, die zahllose Dyias, kleine, von Hand gefertigte Ölkerzen, in Position bringen. Auf einer großen Bühne zelebrieren Priester mit Öllampen die Choreografie der Ganga Aarti, eine Zeremonie, die ebenso wie die vielen Lichtquellen eine günstige Umgebung für die Götter herzustellen versucht.

Waschung und Morgengebet kurz nach Sonnenaufgang im Ganges

Gespräch mit den Göttern: Waschung und Morgengebet kurz nach Sonnenaufgang.

Am Himmel sorgt weißes Laserlicht für den zeitgemäßen Hightech-Spirit. Junge Väter montieren kleine Feuer-Ballons aus Papier, die unter aufgeregter Mithilfe der Kinder in die Höhe expediert werden. Spätestens wenn die Kinder jubeln, die Eltern strahlen und die Papierballons im zunehmend dunstigen Nachthimmel über dem Fluss in Flammen aufgehen, begreift man, dass der Besuch dieser heiligen Stadt alle Zumutungen wert ist.

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