Motivforscherin Karmasin: Mit Gelassenheit Grenzen überschreiten

Helene Karmasin ist alterslos aktiv und über alle Trends wohlinformiert.
KURIER: Was sind Markencodes?
Helene Karmasin: Auf unseren Märkten verkaufen wir nicht einfach Produkte mit funktionalem Nutzen, sondern wir verkaufen Marken. .Marken stehen für Bedeutungen und Werte: Ein Waschmittel zum Beispiel koppelt sich an die Idee der „Reinheit“, Tiernahrung an die Idee zur Liebe an ein Lebewesen. Markencodes sind die „Sprachen“, die das kommunizieren: verbal, visuell, auf vielen Ebenen.
Ist die Verpackung dann wichtiger als das Produkt?
Die Leute kaufen nicht Produkte, sondern Beschreibungen von Produkten. Wenn Sie einen Pudding in eine schwarze Packung stecken mit viel leerem Raum und einer goldenen Aufschrift, wird das als besonders gelten – das ist der elitäre Code.
Gibt es ein unterschiedliches Kaufverhalten von Frauen und Männer?
Es stimmt überhaupt nicht, dass Frauen emotional und Männer rational einkaufen. Männern im Baumarkt können sie unglaubliche Sachen verkaufen – genauso wie Frauen auf dem Gebiet der Kosmetik. Wobei Marken männliche und weibliche Codes benutzen: Duschgels folgen männlichen und weiblichen Körpervorstellungen. Und Männer würden sich zum Beispiel scheuen, in ihren Sportclub mit einer „weiblichen“ Rosa-Glitzer-Duschgelpackung zu gehen.

Wenn man den Song Contest betrachtet, lösen sich die Geschlechterstereotype aber gerade etwas auf. Gewinnt das Metrosexuelle an Bedeutung?
Starre, also biologische Klassifikationen lösen sich auf, daher werden männliche und weibliche Codes vereinigt. JJ und Conchita sind dafür gute Beispiele. Auch die Alterscodes vermischen sich. Modemarken zeigen heute ihre Mode nicht nur an 15-jährigen, sondern auch an tollen Siebzigjährigen. Oder: Ein Parfum, in hellgrünem Samt verpackt, riecht zwischen würzig und blumig und ist bei jungen Männern beliebt, obwohl die Codes der Verpackung weiblich sind. Unsere Gesellschaft ist im Aufbruch, und es macht eine Marke zur interessanten Marke, wenn sie so etwas beachtet.
Sie sind immer auffallend gut gekleidet. Wie wichtig ist Mode?
Der Dresscode ist die „Verpackung“ des Menschen, und Sie teilen immer eine Botschaft mit. Auch wenn Sie sagen: „Mir ist das ja völlig egal“ – dann ziehen Sie sich so an, dass sie auch das mitteilen. Mir ist es nicht egal. Ich finde überhaupt, dass Ästhetik im Alltäglichen etwas Wichtiges ist, und das macht mir großen Spaß. Es ist unsinnig, die Botschaft zu senden: „Ich bin zwar eine graue Maus, habe aber viele innere Werte.“ Die Zeichenoberfläche des Menschen ist sehr, sehr wichtig.
Was halten Sie davon, dass derzeit alle mit Turnschuhen rumlatschen?
Sie sagen „latschen“, aber das sind Sneaker, und das entspricht unserem Lebensgefühl. Eigentlich wollen wir alles schön soft haben. Außerdem können Sie mit Sneakers fast nichts falsch machen. Es ist ja unglaublich, welche Summen dafür inzwischen bezahlt werden.
Ist nicht dennoch eine Uniformität eingezogen?
An der Oberfläche vielleicht schon. Aber der Kenner sieht ganz genau, wenn es etwas Besonderes ist, speziell in den Jugendkulturen. Auch da gibt es subtile Zeichen.
Sie nennen Ihr Institut „Behavioural Insights“. Was ist denn das?
Das ist Verhaltensökonomie – und schon lange eine Strömung in der Soziologie. Man weiß, dass sich Menschen nicht nur rational verhalten, sondern dass viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Man findet das durch Experimente heraus.
Über die Familie Karmasin könnte man einen Film drehen: Ihr 2013 verstorbener Mann Fritz Karmasin, Gründer des Gallup-Instituts, Sie, die Grande Dame der Motivforschung, Aufstieg und Fall Ihrer Tochter Sophie, dazu der redegewaltige Wissenschaftersohn Matthias. Es war wohl nicht immer einfach, so stark im Licht der Öffentlichkeit zu stehen?
Ja, man wird beobachtet – und als Einzelperson für das Verhalten aller anderen befragt. Da sage ich: Wir sind natürlich eine Familie, aber auch Einzelpersonen.
Wie sehr geht Ihnen das Verfahren nahe, das Ihre Tochter hat?
Das ist eine bedauerliche Sache für uns alle.
Zum ausführlichen Gespräch mit Motivforscherin Helene Karmasin
Sprechen Sie mit Ihr darüber, unterstützen Sie sie?
Natürlich, sie ist ja meine Tochter.
Tut sie Ihnen leid?
Ja sicher!
Sie sind bewundernswert aktiv. Wie hält man sich so lange so fit? Was ist Ihr Rezept?
Bewegung, Bewegung, Bewegung! Krafttraining, Yoga, Pilates. Man darf nicht nachlassen. Ich mache auch beruflich das, was ich immer gemacht habe. Und ich bin neugierig, wollte mein ganzes Leben lang immer etwas Neues machen.
Faul sind Sie nie?
Doch, aber dann habe ich sofort ein furchtbar schlechtes Gewissen. Natürlich ist es auch ein täglicher Kampf, das ganze Programm durchzuziehen.
Sie haben vor ein paar Jahren begonnen, Klavier und das Singen zu erlernen. Was gefällt Ihnen daran?
Ich habe keine schöne Stimme und möchte auch niemandem etwas vorsingen, aber ich fand diese Technik so faszinierend, die ich bei einer Opernsängerin lerne. Und am Klavier etwas auswendig zu spielen, ist eine besondere Herausforderung für mich.
Erst kürzlich haben Sie sich auf den Innenseiten Ihrer Handgelenke zwei lateinische Sprüche tätowieren lassen. Sind die beiden jeweils Ihr Lebensmotto?
Beides hat für mich eine Bedeutung. „Die Gelassenheit der Seele“ – „tranquilitas animi“: Was immer geschieht, ich versuche, erst mal gelassen zu sein. Aber ich will auch „plus ultra“, also Grenzen überschreiten.
Warum Tattoos?
Eine Freundin sagte zu ihrer Mutter, sie würde sich so gerne ein Tattoo stechen lassen. Die meinte: „Was wird denn da die Helene sagen?“ Aber ich wollte selbst schon immer ein Tattoo, und so haben wir uns am nächsten Tag spontan welche machen lassen.
Was meint Ihre Familie dazu?
Die einen finden es super, die anderen entsetzlich.
Sie haben sich beruflich auch mit dem Essen beschäftigt, und da gibt es den großen Trend der Selbstoptimierung. Was bedeutet das für die Lebensmittelindustrie?
Sie muss sich darauf einstellen, und besonders interessant ist es bei den Nahrungsergänzungsmitteln. Das ist ein großer Trend: Sie essen eine Pille, und das dringt ins Innere der Zelle ein – magisch! Das Problem ist nur: Wirklich gesundheitsbezogene Aussagen dürfen die ja nicht machen. Daher wird das Produkt in reduzierte, medizinisch aussehende Packungen gesteckt. Weil aber alle so ausschauen, ist Differenzierung schwierig.
Folgen Sie selbst Influencern?
Ja, ich schaue gleich nach dem Aufstehen, was „meine Mädis“ machen – in Mode und Fitness. Wenn zum Beispiel die englische Oma mit den grauen Löckchen in „aging disgracefully“ mit ihren Fitnessübungen anfängt, fallen Ihnen die Augen aus dem Kopf! Die Kunst ist heute nicht nur, tolle Packungen, tolle Bedeutung und tolle Werbung zu haben, sondern, wenn es geht, auch Influencer.
Wie schafft man eine Kultmarke?
Dafür gibt es kein Rezept. Nehmen Sie die Haribo-Goldbärchen: Da fragen Sie gar nicht mehr, woraus die bestehen. Das sind eben die Haribo-Goldbärchen!

Zur Person
Die Spezialistin für Markenentwicklung leitet das Institut „Karmasin Behavioural Insights“. Helene Karmasin berät Firmen, ist Vortragende und Autorin (u. a. „Bildmagie – Die Codes der visuellen Kommunikation“).
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