Aus für Krawatten? Dem Schlips geht’s an den Kragen
Ungewöhnlich leger trat Spaniens Premier Pedro Sánchez jüngst vor die Presse. Mit einem Lächeln im Gesicht und ohne Krawatte um den Hals rief er andere Regierungsbeamte und Vertreter des Privatsektors dazu auf, es ihm gleichzutun: Der Verzicht auf den Schlips reduziere den Einsatz von Klimaanlagen. Und somit den Verbrauch des kostbaren Guts Energie.
Auch wenn ein fehlendes Accessoire die Energiekrise noch lange nicht lösen wird: Zum offenen Kragen muss Sánchez viele seiner nationalen und internationalen Kollegen sowieso nicht mehr überreden. Galt das durchschnittlich 150 Zentimeter lange Stück Stoff um den Hals einst als Ausweis für Seriosität und Kompetenz, wird es heute immer öfter weggelassen.
So zeigte sich Barack Obama während seiner Amtszeit als US-Präsident nicht nur selbst am liebsten im weißen Hemd minus Krawatte, sondern schaffte die strenge Schlipspflicht gleich für das gesamte Oval Office ab. In Deutschland verzichtete Bundesminister Karl Lauterbach bei seiner Vereidigung im Vorjahr auf das textile Accessoire.
Volksnähe
Im österreichischen Parlament, wo nie eine schriftlich vorgeschriebene, jedoch gelebte Krawattenpflicht galt, sorgten bereits im Jahr 1986 die Grünen für Aufsehen: Um „gegen die Kleidungsgewohnheiten als Symbol eines repressiven Systems vorzugehen“, knoteten die Parteimitglieder damals keine Krawatten. Im Jahr 2020 wollte sich auch Werner Kogler an seinem ersten Tag als Vizekanzler nicht einengen lassen. Seine Angelobung bestritt der Grünen-Chef „oben ohne“.
Gratis Aufmerksamkeit
Hinter der immer öfter zu beobachtenden Krawattenverweigerung steckt laut Politikwissenschafter Peter Filzmaier eine simple, jedoch zielgerichtete Botschaft: „Man zeigt der Bevölkerung damit: Ich bin einer von euch. Während der typische Angestellte früher mit Krawatte in die Arbeit ging, ist das heute eher ungewöhnlich. Offenes Hemd und hochgekrempelte Ärmel am Politiker sollen kommunizieren, dass man auch anpacken kann.“
Reaktion in Sozialen Medien
In jedem Fall geht es um Aufmerksamkeit. Obwohl man meinen könnte, dass ein Hauch mehr Lässigkeit an einem Politiker – bei der Nationalratswahl Anfang Juli trugen 32 Redner eine Krawatte, 27 nicht – heutzutage niemanden mehr tangieren müsste, zeigen die Reaktionen in den Sozialen Medien das Gegenteil. Filzmaier: „In einem Umfeld, wo früher alle einheitlich uniformiert waren, ist es nach wie vor ein relativ leichter und dankbarer Weg aufzufallen, indem man die Krawatte abnimmt. Und Aufmerksamkeit ist die härteste Währung eines jeden Politikers.“
Neues Amt - neues Image
Das Spiel funktioniert jedoch auch in die andere Richtung. Wolfgang Schüssel verabschiedete sich im Jahr 2000 anlässlich seines Aufstiegs zum Bundeskanzler vom geliebten Mascherl und griff fortan nur mehr zur Krawatte. Sebastian Kurz sah sich als Bundeskanzler zwischenzeitlich ebenfalls veranlasst, sein Hemd wieder mit Krawatte zu zieren. „Ein neues Amt erfordert immer auch eine gewisse Form von Imagewandel“, weiß Politik-Experte Filzmaier.
Casual Friday wird alltäglich
Abseits des politischen Parketts scheint die Krawatte spätestens seit Beginn der Coronapandemie wie aus der Zeit gefallen. Homeoffice und zahlreiche von der Sportbekleidung inspirierte Modetrends haben dazu geführt, dass das Business-Outfit immer öfter nur aus Hemd und Jeans besteht. Kurzum: „Was früher nur am Casual Friday akzeptabel gewesen wäre, ist nun die ganze Woche über gang und gäbe“, sagt Stil- und Imageberaterin Kristina Radon. „Ich beobachte an meiner männlichen Kundschaft, dass der Dresscode im Beruf sehr locker geworden ist. Selbst in Vorstandssitzungen ist die Krawatte nicht mehr Pflicht.“ In manchen Situationen könne der Schlips sogar deplatziert wirken: „Er strahlt zwar das Ordentliche und Seriöse aus, jedoch auch ein wenig das Altbackene.“
Hoffnung am Laufsteg
Sind die Tage der Krawatte als Teil des klassischen Herrenanzugs somit gezählt? Ein Blick auf die internationalen Laufstege zeigt: Viel Halsschmuck ist von Paris bis New York nicht mehr zu sehen. Lichtblicke für Krawatten-Aficionados gab es dennoch. Prada und Dolce & Gabbana gehören zu den wenigen Modehäusern, die für die kommende Frühjahr/Sommer-Saison 2023 am Schlips festhalten – schmal geschnitten oder metallisch glänzend. Man weiß ja nie, wann der nächste Imagewandel ansteht.
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