Wie im Rausch: Warum Verlieben Kopfsache ist
Die Zeit rast oder bleibt für Augenblicke stehen. Das Herz pocht, man hat mehr Energie und weniger Hunger. Euphorisiert – so fühlen sich frisch Verliebte. Der Neurowissenschafter Antonio Damasio bezeichnete Verliebtsein gar als „kurzfristigen Hirnschaden“. Doch was passiert bei diesem Überdrüber-Gefühl genau – und wann wird Liebe daraus?
Dazu hat die französisch-amerikanische Neurowissenschafterin Stephanie Cacioppo ein neues Buch geschrieben: „Warum wir lieben“. Auch wenn es Romantiker nicht gerne hören werden: Verliebtheit ist keineswegs eine Herzensangelegenheit, sondern reine Kopfsache.
Droge Dopamin
„Das Gehirn setzt eine Kaskade von Neurotransmittern und Chemikalien frei, die unsere Stimmung und Wahrnehmung verändern“, so Cacioppo. Dabei entsteht ein euphorisches Wohlgefühl, das hauptsächlich durch Dopamin erzeugt wird – der „Botenstoff des Glücks“. Er wird auch mit Sucht in Verbindung gebracht und flutet Bereiche des Gehirns, die für Wohlgefühl und Belohnung zuständig sind. Das erklärt etwa, warum zwei Menschen in dieser ersten Schnupperphase kaum mehr aus dem Bett zu kriegen und so gierig aufeinander sind. Oder die Entzugserscheinungen, wenn die/der Geliebte abwesend ist. „Deshalb kann sich das Verliebtsein so anfühlen, als würde man Drogen nehmen, ohne einen Kater zu bekommen“, erklärt die Romantik-Expertin.
Die Effekte: Die Herzfrequenz steigt, die Haut wird warm, die Wangen rosig, gleichzeitig erzeugt der Körper zusätzliche Energie in Form von Glukose. Dazu gesellt sich Noradrenalin, wodurch sich die Wahrnehmung der Zeit, aber auch der Realität einschränkt und verzerrt. Gleichzeitig sinkt der Spiegel des Hormons Serotonin, das den Appetit steuert – und zwar „auf ein derart niedriges Niveau, wie es bei Personen mit Zwangsstörungen anzutreffen ist“, schreibt Cacioppo.
Frühlingsgefühle
Im ersten Frühling ohne Corona-Beschränkungen und inmitten multipler Krisen scheint die Sehnsucht nach Liebe besonders groß. Geteiltes Leid scheint halbes Leid in unsicheren Zeiten von Krieg, Klimawandel, Inflation und schlechten Nachrichten. Doch auch die warme Jahreszeit wirkt wie ein natürlicher Booster: Durch das intensivere Sonnenlicht wird das Schlafhormon Melatonin unterdrückt, der Stoffwechsel kommt in Schwung, man wird unternehmungslustiger, die Flirtlaune steigt.
Liebes-Expertin
Stephanie Cacioppo, geboren 1974 in Frankreich, forscht und lehrt an der University of Chicago und leitet dort das Brain Dynamics Laboratory. Sie gilt als führende Neurowissenschafterin auf dem Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen
2 Mio. Singles
gibt es laut einer Umfrage der Dating-Plattform Parship in Österreich, knapp 80 Prozent sehnen sich nach einer Beziehung. Eine andere Studie zeigte, dass sich die Hälfte junger Paare online verliebt hat, 20 Prozent über den Bekanntenkreis, beim Ausgehen nur noch 4 Prozent
Die veränderte Geruchslandschaft regt ebenfalls die Sinne und somit das Verlieben an, sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Birgit Maurer. „Ich merke bei mir in der Praxis, dass die Leute sagen: ‚Jetzt schau’ ich, dass ich mich wieder verliebe.‘ Da gibt es dieses Zitat des Philosophen Khalil Gibran: ‚Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters.‘“ Medial manifestiert sich die Lust am Verlieben im anhaltenden Hype um TV-Kuppelformate – gerade sucht wieder der „Bachelor“ seine Herzdame, auf Netflix bricht „Too Hot To Handle“ Rekorde. Und immer noch steigen die Nutzungszahlen von Dating-Apps.
Die Suche nach dem perfekten Partner, unterstützt durch mehr oder weniger ausgeklügelte Algorithmen, ist allerdings nicht einfacher geworden, wie Cacioppo schreibt. Viele swipen immer weiter, fühlen sich angesichts der Vielfalt an Möglichkeiten überfordert und scheitern daran, eine reale Verbindung herzustellen. Nicht selten folgt dann die Diagnose Dating-Burn-out. Die Generation Y verharrt immer öfter in „Situationships“ – undefinierten Beziehungen, die alles offenlassen. Man ist zusammen und auch nicht.
Dieser „FOBO“ – fear of better options, die Angst vor besseren Optionen, auch „choice overload“ genannt – begegnet Maurer in ihrer „Liebeskummerpraxis“ in Wien immer öfter. Dort berät sie Singles aller Altersklassen, die auf Tinder & Co. ihr Glück (ver-)suchen. „Ich merke, dass man sich oft eine Hintertür offenlässt: Der oder die ist zwar völlig okay, aber vielleicht kommt noch etwas Besseres. Liebe ist aber nicht nur ein Gefühl, Liebe ist eine Entscheidung.“ Mit dem Angebot an Kennenlernmöglichkeiten wächst auch die Vielfalt an Liebesformen. Die monogame Paarbeziehung ist bei Millennials nicht mehr automatisch die Norm. „Aktuell habe ich drei Paare bei mir, wo einer von beiden eine offene Beziehung will“, erzählt Maurer. Im Gegenzug gebe es einen Trend, den sie Liebes-Biedermeier nennt: „Junge Paare wollen Verbindlichkeit, Innigkeit, Exklusivität.“
Unentbehrlich
Stephanie Cacioppo berichtet im Buch von ihrer eigenen Liebesgeschichte und dem damit verbundenen Herzschmerz: Mit 37 lernte sie den 23 Jahre älteren Einsamkeitsforscher John T. Cacioppo bei einem wissenschaftlichen Symposium kennen, rasch war es um die beiden geschehen. 2018 starb er unerwartet im Alter von 66 Jahren, nach knapp sieben gemeinsamen Jahren.
Die Neurowissenschafterin, die vor ihrer Ehe nie verliebt war, outet sich trotzdem als „unverbesserliche Romantikerin“: „Ich bin hier, um dafür zu plädieren, dass wir uns in dieser Zeit sozialen Wandels, da sich mehr Menschen für das Singledasein entscheiden und von Liebesbeziehungen Abstand nehmen, ein Herz fassen sollten. Die Welt verändert sich, gewiss, aber die Liebe wird sich mit ihr verändern und weiterentwickeln“. Liebe sei niemals entbehrlich, weil sie eine biologische Notwendigkeit ist – von zentraler Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Wir sind, so Cacioppo, auf „Liebe programmiert“.
Liebe entsteht, wenn sich der erste Rausch legt – und ein bisschen mehr Ruhe einkehrt. Maßgeblich dafür ist Oxytocin, das durch Kuscheln, Küssen, Streicheln, Sex und Orgasmus entsteht. „Oxytocin ist ein Neuropeptid, das ‚Bindungshormon‘ genannt wird, weil es wie Klebstoff wirkt und Gefühle der Empathie und des Vertrauens stärkt“, erklärt Hirnforscherin Stephanie Cacioppo. Es kann bewirken, dass sich zwei Menschen langfristig aneinanderbinden – Beziehung entsteht. Und so manches Wunder, wie Cacioppo in Experimenten selbst erfahren hat.
So kann allein der Gedanke an den geliebten Menschen die Lesegeschwindigkeit verbessern. „Zahlreiche Studien bestätigen, dass die Liebe unserem Geist in unerwarteter Weise wohltut.“ Man wird kreativer, motivierter, bewältigt Herausforderungen besser. Außerdem wirkt sie stresslindernd und fördert Heilungsprozesse, wie ein Experiment an der Ohio State University zeigte: Dabei wurden Versuchspaaren Wunden am Arm zugefügt und aufgefordert, liebevoll miteinander zu reden oder einen Konflikt auszutragen. Es zeigte sich, dass die Verletzungen jener Paare, die gut miteinander umgingen, schneller heilten.
Oxytocin spielt hier ebenso eine zentrale Rolle, indem es auf das Immunsystem wirkt. Und auf das Schmerzsystem: So sehr Liebe wehtun kann, so sehr hat sie das Potenzial, den menschlichen Geist dabei zu unterstützen, mit Schmerz besser umzugehen. Patienten geht es besser, wenn sie von ihrer Bezugsperson berührt werden und sich diese im selben Zimmer befindet.
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