Bonelli: Wir werden mit vielen Bauchgefühlen geboren, die ursprünglich der Lustbefriedigung dienen: Lustmaximierung und Unlustvermeidung, sagte Sigmund Freud. Ein Neugeborenes ist reines Bauchgefühl. Dann entwickelt sich die Vernunft. Erst, wenn der Vernunftgebrauch da ist, entwickelt sich so etwas wie ein Herz, sodass der Mensch beginnt, sich in Freiheit für das eine oder andere entscheiden zu können.
Das Bauchgefühl alleine ist also nicht frei?
Wir können nicht entscheiden, in wen wir uns verlieben oder ob wir Hunger haben. Wir sind frei in unseren Handlungen, aber nicht in unseren Gefühlen. Bauchgefühle sagen uns etwas, haben aber nicht immer recht. Der Bauch braucht zwei Reflexionen: Die erste Kontrolle ist die Stellungnahme des Kopfes – ist das vernünftig? Die zweite ist die Kontrolle des Herzens – entspricht das meinen Werten? Trifft beides zu, sollte man dem Bauchgefühl folgen.
Gibt es so etwas wie Bauch- und Kopfmenschen?
Es gibt Menschen, die haben wenig Zugang zu ihrem Bauchgefühl, aber auch sie haben welche. Das ist durchaus gefährlich, weil sie wenig Kontrolle über sich haben. Die nennt man klassischerweise Kopfmenschen. Bei den Bauchgefühlen gibt es zwei Gruppen: die aversiven und die affirmativen Bauchgefühle. Menschen mit affirmativen Bauchgefühlen wollen Lust leben, Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll. Menschen mit aversiven Bauchgefühlen empfinden Angst und Hass und sagen in erster Linie Nein. Beides sind Bauchmenschen, unterscheiden sich aber eklatant voneinander. Insofern bin ich über die Aufteilung in Bauch- und Kopfmenschen nicht glücklich. Sie bringt uns nicht weiter.
Haben wir als Gesellschaft verlernt, auf unser Bauchgefühl zu hören?
Gesellschaftlich haben wir einen spannenden Wandel durchgemacht, denn wir sind von einer affirmativen in eine aversive Bauchgefühlsgesellschaft geschlittert. Bis vor Kurzem war Lustmaximierung das Prinzip, jeder musste sich verwirklichen, Spaß haben. Seit drei Jahren herrscht die Aversion, eine Angst vor vielen Dingen, ausgelöst durch Pandemien, Krieg, Inflation. Und ich beobachte mit Schrecken ein Hineinschlittern in eine Hassgesellschaft mit Shitstorms und Cancel Culture, wo der andere abgewertet wird, weil er eine andere Meinung hat.
Was würde passieren, wenn wir alle immer nach Bauchgefühl entscheiden würden?
Dann wären wir wie eine Nussschale im Meer, die hin- und hergetrieben wird. Es gibt ja nicht nur ein Bauchgefühle, es gibt viele, und die widersprechen sich gegenseitig. Wer immer nur seinem Bauchgefühl folgt, geht jedenfalls in die Irre.
Wie schafft man eine Balance zwischen Kopf und Bauch?
Durch das Herz. Ich kann mich selber prägen, indem ich Handlungen, die ich für gut und richtig erachte, so oft wiederhole, bis sie auch der Bauch verinnerlicht hat. Etwa die Wahrheit sagen: Wir neigen dazu, ab und zu zu lügen, um Unlust zu vermeiden. Es gibt aber Menschen, die haben das so stark verinnerlicht, dass sie automatisch die Wahrheit sagen. Man kann sich im Grunde alle Haltungen erarbeiten, wenn man sie im Herzen für gut erachtet. Am Anfang steht die Frage: Was sind meine Ideale, wohin will ich als Mensch?
Wann ist es gut, wenn man auf sein Bauchgefühl hört?
Es gibt ein Bauchgefühl, das ich besonders verehre, und das ist die Intuition. Intuition ist ein erlernter Automatismus, der auf den bisherigen Erfahrungen beruht. Ich mache als Psychiater viel intuitiv, weil ich schon einige Erfahrung habe. Die erarbeite ich mir, indem ich über Dinge nachdenke, meine Hypothesen überprüfe. So präge ich also meine Bauchgefühle – und sie mich.
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