Kein Therapie-Ersatz
Die Psycho-Inspiration der Profis ersetzt keine klassische Gesprächstherapie, betont die Klinische und Gesundheitspsychologin Christina Beran, die sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung befasst. Den niederschwelligen Zugang bewertet sie aber positiv. „Als Psychologin setzt man sich natürlich damit auseinander, wie man seine Expertise verbreiten kann, um einen Beitrag zum Wohl der Menschen zu leisten. Soziale Medien sind ein guter Kanal, um Studienergebnisse, Positives oder Anregungen zu teilen. Dass der Bedarf da ist, wissen wir.“
Etwa jeder sechste Österreicher leidet laut einer EU-Studie an einer psychischen Erkrankung wie Depressionen oder Angstzuständen. Die auf Instagram vertretene Generation Y, also die heute 20- bis 35-Jährigen, werden nicht umsonst als „Generation Therapy“ bezeichnet: Laut einer Studie, die die britische Mental Health Foundation 2018 in Auftrag gab, fühlt sich jeder zweite junge Erwachsene vom permanenten Vergleich und der Konfrontation mit scheinbar perfekten Leben unter Druck gesetzt. Psychotherapie ist teuer und – obwohl das Bewusstsein bei den Millennials stark ansteigt – noch immer nicht vollständig entstigmatisiert.
Auch Camilla, Pädagogin und Instagram-Nutzerin, gehört mit ihren 27 Jahren der Generation Therapy an. Auf Instagram folgt sie einigen Selfcare-Profilen und Therapeutinnen – nicht wegen eines akuten psychischen Problems, sondern weil sie sich „persönlich und emotional weiterbilden“ möchte. „Ein bisschen Nachdenkzeit zwischendurch tut gut und hilft mir, mich besser zu verstehen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen oder meine Ressourcen einzuteilen.“ Dass Tipps zur Selbstfürsorge online auf große Resonanz stoßen, überrascht sie nicht. „Ich denke nicht, dass meine Generation häufiger psychisch erkrankt. Aber das Bewusstsein ist größer, zumindest in meinem Umfeld. Es herrscht Klarheit, dass man sich um die seelische Gesundheit genauso kümmern muss wie um die körperliche.“
Vertrauen herstellen
Dazu könnte nun just die Heile-Welt-App beitragen, sagt Psychologin Beran. „Die sozialen Medien geben der Thematik eine Selbstverständlichkeit.“ Therapeutin Olivera schrieb in einem Essay, dass sie und ihre Kolleginnen niemanden ermutigen würden, mit Instagram eine Therapie zu ersetzen. Stattdessen bieten sie Werkzeuge, Einblicke und eine Gemeinschaft und klären auf, wie „wunderbar“ Therapie sein kann. Tabu: persönliche Ratschläge.
So hält das auch Hilde Fehr, die in Wien als Selbstwert-Coach arbeitet und die sozialen Medien seit einiger Zeit in ihre Arbeit integriert. In Live-Videos klärt sie heikle Beziehungsfragen („Wie unterschiedlich dürfen Partner sein?“), mit ihrem täglichen „Mutmacher“ auf Instagram spricht sie in erster Linie Frauen an, die das Gefühl quält, nicht gut genug zu sein. „Was die Insta-Therapy bewirken kann, ist, Vertrauen zur potenziellen Therapeutin bzw. Coach aufzubauen. Man kann den Menschen in eine glücklichere Energie bringen. Die Grenzen sind dann erreicht, wenn jemand ein Einzelgespräch braucht.“
Nach etwa einem Jahr intensiver Social-Media-Präsenz würden sich nun immer wieder neue Klientinnen bei ihr für ein „analoges“ Einzelgespräch melden. Ihre Erfahrungen mit Instagram seien nur positiv: „Manchmal lese ich Kommentare wie ’Würde ich Hilde nicht folgen, wären mein Mann und ich schon getrennt!’ Da werde ich manchmal richtig rot.“ Ja, es soll vorkommen, dass die Insta-Therapie auch den Selbstwert der Therapeutin steigert.
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