William Kentridge bei ImPulsTanz: Ein Narrenschiff sticht in See

Von: Silvia Kargl
Kein Happy End wird es für die Passagiere des normalerweise für den Orangentransport eingesetzten Frachters Capitaine Paul Lemerle geben, das im März 1941 von Marseille in See sticht. Auf der Atlantiküberquerung, die nach Martinique führen soll, gibt es am Anfang und Ende nur einen, der sagen wird „I am (still) alive“ – und der ist Kapitän Charon, der Fährmann der antiken Mythologie, der die Toten gegen Bezahlung in die Unterwelt überführt. Das ist der rote Faden und einer der ersten dramaturgischen Coups, der dem Regisseur und bildenden Künstler William Kentridge für sein Stück „The Great Yes, the Great No“ bei ImPulsTanz im Burgtheater eingefallen ist.
Die Uraufführung erfolgte vor zehn Tagen beim Festival d’Aix-en-Provence. Ein Schau-Spiel vom Feinsten, eine Collage aus Ausstattung, Musiktheater und Texten mit einer Fülle an historischen Bezügen, ein tieftrauriges und zugleich faszinierendes Stück ist Kentridge gelungen. 19 Künstlerinnen und Künstler stehen auf der wie bei Kentridge gewohnt gut mit Menschen und Objekten gefüllten Bühne. Der einzige Wermutstropfen des Abends ist die diesmal im Schatten stehende Rolle des Tanzes.
Neben Kapitän Charon übernimmt ein siebenköpfiger Frauenchor eine Hauptrolle. Ähnlich einem Chor aus antiken Dramen kommentieren die Frauen singend die Ereignisse. Zu faszinieren vermag auch Kentridges Idee, gleich acht Sprachen einzusetzen, neben Französisch und Englisch sind es sechs afrikanische Sprachen.
Die große Flucht der Literatur
Marseille erweckt derzeit das Interesse auch von Autoren. Uwe Wittstocks „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ schildert die französische Hafenstadt als Fluchtort deutscher Intellektueller, die nach dem Sieg von Hitlers Wehrmacht über Frankreich erneut von den Nationalsozialisten verfolgt werden und zur Fortsetzung der Flucht gezwungen sind. An einige von ihnen wie Anna Seghers erinnert nun Kentridge, wenn auch mit anderen Stilmitteln und in einem weiter gefassten Rahmen. Die Personen an Bord sind anhand großer Masken zu identifizieren.
Denn Kapitän Charon ist in der Lage, auch Passagierinnen und Passagiere aus vergangenen Zeiten an Bord zu holen, auch solche, die nie auf diesem Schiff waren. In diesem Kontext wird das Ziel der Flucht interessant.
Die Karibikinsel Martinique ist ein französisches Überseedépartement, das eine historisch relevante Bedeutung für die Geschichte der Sklaverei hat, die Kentridge in vielen seiner Stücken thematisiert. Der Frachter Capitaine Paul Lemerle bringt nun 90 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei (1848) Flüchtlinge in ein Land mit Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Vorfahren einst als Sklaven aus Afrika dorthin deportiert worden waren und unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben mussten.
In Kentridges Stück wird die Situation von Flüchtenden vor einem riesigen Rad gezeigt, das wie in einer Lotterie zufällig zu einer Zeit und an einem Ort hält. Von Charon wird neben Josephine Baker auch deren Namensvetterin Joséphine de Beauharnais an Bord geholt. Die spätere Gattin Napoleons wurde auf Martinique geboren und soll ihrem Mann geraten haben, die bereits abgeschaffte Sklaverei 1802 wieder in den französischen Kolonien einzuführen.
Kentridges Stück hält dazu viele Verflechtungen bereit, so geht es auch um Kommunisten wie Lenin, Trotzki und Stalin, die ebenso an Bord erscheinen. Interessant ist auch die Figur des französischen Dichters André Breton. Mit ihm kommt die Kunstrichtung des Surrealismus auf das wankende Schiff. Wiederholt zitiert Kentridge zudem die Bauhaus-Ästhetik der 1930-er Jahre. Nicht nur Menschen, sondern auch deren Schaffen steht in „The Great Yes, the Great No“ auf dem Spiel, dessen Sieger immer Charon bleiben wird.
KURIER-Wertung: 5 Sterne
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