"Wilder Diamant"-Regisseurin: „Man kann den Blick nicht abwenden“
Liane wird von Laiendarstellerin Malou Khebizi verkörpert: Sie führt die Paradoxie der Social Media-Präsenz vor Augen.
Nichts ist der 19-jährigen Liane zu aufwendig, um Aufmerksamkeit in den sozialen Medien zu bekommen: Dicke Schminke, aufgespritzte Lippen, Haarteile, krallenartige, bunt lackierte Nägel, Silikonbusen, ein selbst gestochenes Tattoo. Sich zu inszenieren ist der Lebensinhalt der jungen Frau, die gemäß ihrer Herkunft aus einem ärmlichen Vorort im südfranzösischen Fréjus keine Chance auf einen guten Platz im Leben hat.
Doch Liane lässt sich den Glauben an sich selbst nicht nehmen. Sie ist besessen von Social Media und von diesen atemberaubend geschmacklosen Reality-TV-Serien, die jeden Abend die Bildschirme fluten. Auf ihren ultrahohen Stöckelschuhen, die sie mit Glitzersteinen beklebt, und den knappen Tops über dem Kunstbusen inszeniert Liane ihre eigene Reality-TV-Show. Zustimmung findet sie dafür in ihrem sozialen Umfeld keine – im Gegenteil, sie erntet Häme und Verachtung.
Filmfestspiele Cannes
„Diamant brut“, Rohdiamant, nennt die französische Regisseurin Agathe Riedinger ihr gelungenes Langfilmdebüt, mit dem sie es auf Anhieb zu den heurigen Filmfestspielen in Cannes geschafft hat.
Riedingers Rohdiamant ist natürlich Liane, großartig verkörpert von Laiendarstellerin Malou Khebizi, die uns die Paradoxie der Social Media-Präsenz vor Augen führt. Die Faszination und das Abgestoßensein, das Dabeiseinwollen und das Bewusstsein, wie blöd das doch alles ist.
Regisseurin Agathe Riedinger
„Das Thema Social Media und Reality-TV begleitet mich schon seit vielen Jahren“, so Riedinger im Gespräch, „die Rohheit und Direktheit, die diese Formate besitzen. Sie verleiten zum Hinschauen und sind zugleich widerlich. Die Zurschaustellung von Menschen vor allem aus unteren Schichten und die ausbeuterische Darstellung vor allem weiblicher Körper sind eigentlich schrecklich, aber man kann den Blick nicht abwenden. Ich hatte das Gefühl, ich muss diese Ambivalenz thematisieren, weil diese Formate ja der Zerstreuung vieler Menschen dienen.“
Je länger sie sich mit dem Thema beschäftigt habe, desto mehr wuchs ihre Zuneigung zu den Darstellern, die ihr Innerstes für alle sichtbar nach außen kehren. „Vor allem die Frauen präsentieren sich dem Publikum ohne Scheu: mit wirklich imposanten Körpern, auffälligen Outfits und provokanten Aussagen. Sie sind mutig, pfeifen sich nichts. Mir scheint das wie ein Schrei nach Aufmerksamkeit, um sich sichtbar zu machen und einen Platz zu finden in der Öffentlichkeit.“
Riedingers Blick auf ihre Heldin Liane ist ein wohlwollender, fast zärtlicher, der auch im Zuseher spontane Sympathie für das Unterschichtmädchen, das sich nicht unterkriegen lässt, weckt: „Für mich war es besonders wichtig, diese Zuneigung im Film rüberzubringen. Denn die Teilnehmer an solchen Realityshows werden immer verächtlich gemacht, stigmatisiert. Als oberflächlich und dumm abgestempelt. Aber sie sind im Allgemeinen nicht so. Es sind einfach Menschen, die sich nach Anerkennung und Liebe sehnen. Liane hat auch dieses tiefe Bedürfnis nach Zuneigung – und dass man ihr ihre Würde lässt, ohne dass sie Anfeindungen oder Gewalt befürchten muss.“
War es für sie wichtig, die Rolle der Liane mit einer Laiendarstellerin zu besetzen? - „Total wichtig. Die Geschichte kann nur glaubwürdig sein mit einer Darstellerin, die um ihre Sichtbarkeit kämpfen muss. Mit einer jungen Frau, die bisher unsichtbar und unbedeutend war in dem Milieu, in dem sie sich bewegte. So etwas kannst du nicht imitieren oder faken, das merken die Leute. Alles musste so authentisch wie möglich sein. Malou ist es.“
Rauer Ton in Fréjus
Der Film „Wilder Diamant“ spielt in Fréjus, wo Riedinger gedreht hat. „Ich wollte damit auch ein Zeichen setzen. Fréjus, das ist der nicht-glamouröse Teil der Côte d’Azur – und es war die erste französische Stadt, die einen rechtsextremen Bürgermeister hatte. Es herrscht ein rauer Ton dort. Liane ist ein Kind dieser Gesellschaft, in der Vorurteile und Gewalt dominieren. Es war eigenartig, aber als wir vor Ort drehten, herrschte eine seltsame, unheimliche Spannung.“
Riedinger ist auch stolz darauf, nicht das gängige bourgeoise Klischee des französischen Films zu bedienen, sondern das Frankreich von unten, quasi das andere Ende der sozialen Hierarchie zu zeigen. „Ich hatte einfach genug von diesem Bild, das so oft im französischen Film vermittelt wird. Die Befindlichkeiten bourgeoiser, reicher Menschen oder umgekehrt die Bandenkriminalität in heruntergekommenen Vierteln Marseilles. Ich wollte einmal eine andere Realität zeigen – und davon gibt es viele in Frankreich.“
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