"Das Letzte Jahr" von Signa: Einübung in das Unvermeidbare

Die Demenzstation Veilchenhang als abgeschottete Bastion: „Das Letzte Jahr“
Die Lethe Simulationswelten gibt es tatsächlich. Zumindest unterhält die Firma eine Website mit rumänischer Länderkennung. 2023 ließ sie in Hamburg „Das 13. Jahr“, die Zeit der Pubertät, durchleben. Doch diese Versuchsanordnung dürfte nur eine Vorstufe gewesen sein. Denn „Lethe“ ist ein Fluss in der griechischen Unterwelt – und das Wort bedeutet „das Vergessen“: Wer vom Wasser der Lethe trinke, verliere vor dem Übertritt ins Totenreich seine Erinnerung. Die jüngste Simulation der ominösen Firma beschäftigt sich daher, naheliegend, mit dem letzten Lebensjahr – in einer Demenzstation: Die Menschen wissen nicht mehr, wann und wie sie hierhergekommen sind.
Hinter dem Unternehmen Lethe steckt das dänisch-österreichische Kollektiv Signa, das 2016 bei den Wiener Festwochen im Werkstättengebäude des Volkstheaters „Wir Hunde“ als immersives und beklemmendes Spektakel realisierte. Ihre neue, nochmals aufwendigere Produktion brachten Signa und Arthur Köstler am Samstag im Funkhaus, der Homebase der diesjährigen Festwochen, zur Uraufführung. Applaus gab es keinen, denn die Dramaturgie hatte ihn zu verhindern gewusst. Wäre er möglich gewesen, er wäre tosend ausgefallen – trotz der Dauer von knapp sechs Stunden und einer eher dürftigen „Desimulation“-Schlussperformance.
Des langen Tages Reise in die Umnachtung beginnt militärisch straff, fast beängstigend, durchorganisiert: Die 60 Unerschrockenen, die sich für „Das Letzte Jahr“ quasi als Einübung in das Unvermeidbare (so lautet ein Gedichtband von Alfred Kolleritsch) entschieden haben, werden gemeinsam in einem getäfelten Raum betont sachlich eingewiesen. Eine Stimme aus dem Lautsprecher hatte ein „Türen schließen!“ befohlen – und nun darf man sich wie in einem Gefängnis fühlen, ausgeliefert dem Pflegepersonal.
Nur Nummer und Name
Alle persönlichen Gegenstände sind abzugeben, auch die Kleidung: Man bekommt Trainingshose und Leibchen, Socken, Schlapfen – sowie ein Lätzchen mit Nummer und Namen umgebunden.
60 Menschen, in wechselnde Kleinstgruppen aufgeteilt, fügen sich willenlos dem Kommandoton: Sie spielen, so gut sie es können, gebrechliche wie demente Menschen. Das fällt den meisten erstaunlich leicht. Weil sie vielleicht, wie der Rezensent, einen Vater haben, der ihnen Vorbild ist. Oder weil sich in die Schar der ratlosen Pflegebedürftigen eingeweihte Profis eingeschlichen haben, die sich verhaltensauffällig benehmen.

Verloren irrt man herum: "Das Letzte Jahr" im leerstehenden Funkhaus
Bei der Premiere verkörperte Sabine Haupt eine Figur namens Wolf: Sie agierte derart entrückt wie irre, dass sie zum Thema des Personals wurde („Wo ist die Wolf schon wieder hin?“): Man wusste echt nicht, ob die Burgschauspielerin gecastet worden oder wirklich nur zahlende Teilnehmerin war. Und man spürt nicht nur die missliche Lage, die Verzweiflung der Demenzerkrankten: Demütig anerkennt man die Leistungen der riesigen Belegschaft, die den Betrieb mit viel Menschenliebe aufrechterhalten müssen. Aber wenn einer renitent wird, weil das Essen (tatsächlich!) ein Fraß ist, dann tickt auch die herzensgute Schwester aus.
Trutzburg als Labyrinth
Man wird durch die Stationen geschleust, längst hat man in diesem Labyrinth die Orientierung verloren. Und das Gefühl für Zeit. Irgendwann merkt man aber, auch wenn der überaus komplexe Ablauf perfekt getimt ist: Es wird etwas zach. Denn die dystopische Grundsituation hat sich spätestens mit der zweiten Evakuierung abgenutzt. Draußen dürfte eine Art Bürgerkrieg toben (man kriegt ja nur Brocken mit, hört von draußen andauernd dumpfes Grollen, Detonationen, Hundegebell), doch hier, im beengten Schutzraum, sei man dank der allgegenwärtigen Security sicher. Das erinnert dann doch stark an „Endspiel“ von Samuel Beckett.

Schaffen detailverliebt eine komplexe Simulation: Signa und Arthur Köstler
Signa hat aber wieder viele grandiose Details und feine Irritationen eingebaut: In dieser Trutzburg, „der letzten Bastion der Menschlichkeit“, tragen seit der „Namenssäuberung“ ausnahmslos alle traditionelle heimische Namen.
Nach vielleicht fünf Stunden wird aus dem Off verkündet, dass man jetzt stirbt. Ihr Rezensent erlebte als Ottenstein einen unglaublich berührenden Tod. Denn er hatte gerade Besuch von einer jungen Frau erhalten, von der er natürlich nicht wusste, wer sie ist. Und als er die Augen geschlossen hatte, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Du warst der beste Papa.“ Mögen alle oder zumindest viele nach dem echten Tod ähnlich Tröstendes vernehmen können.
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