Rieke Süßkow: „Woher kommt diese wahnsinnige Aggression?“

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Die Volkstheater-Regisseurin bringt am 12. Dezember „Geschichten aus dem Wiener Wald“ auf die Bühne. Weil sie Horváths Stück „derart dringlich“ findet.

Jan Philipp Gloger, der Direktor des Volkstheaters, verpflichtete Rieke Süßkow als Hausregisseurin. Die Berlinerin kennt Wien sehr gut: Hier studierte sie, hier sammelte sie erste Theatererfahrungen. Und hier hob sie Peter Handkes „Zwiegespräch“ mit einem ganz besonderen Twist aus der Taufe. Dass auch ihre Inszenierung von Ödön von Horváths Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“, die heute Premiere hat, unkonventionell wie messerscharf ausfallen wird, liegt auf der Hand. Allerdings nicht so sehr wegen der Crossgender-Besetzung (Karoline Marie Reinke spielt den brutalen Oskar, Maximilian Pulst die Marianne).

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Szenenfoto "Geschichten aus dem Wiener Wald"

KURIER: Sie wurden 1990 in Berlin geboren. Wie und warum stießen Sie denn zum Theater?

Rieke Süßkow: Ich komme aus Moabit, einem multikulturellen Arbeiterbezirk, und war schon als Kind fasziniert von Zirkus, Puppentheater, Straßenfesten, also den unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten. Mit 15 bin ich zu einer Jugendtheatergruppe, da hatte man einen sehr unbedarften Zugriff, nicht am Zahn der Zeit. Erst als ich nach Wien gezogen bin, um Theater- und Medienwissenschaft zu studieren, habe ich den Stadt- und Staatstheater-Kosmos kennengelernt.

Wussten Sie schon damals, dass Sie Regisseurin werden wollen?

Ich wusste nur: Ich möchte Theater machen – in welcher Form auch immer. Aber ich war mir noch unsicher, ob ich wirklich in die Richtung Regie gehen will.

Warum das Studium in Wien?

Ganz banal: Einige Menschen sagten mir, dass man hier gut Theaterwissenschaft studieren kann. Also kam ich – und fand es toll. Hier wird die Kunst derart wertgeschätzt! Diese verschiedenen Theater, die kleinen, die großen und die freie Szene: Das gibt es in der Form nicht in Deutschland. Und es läuft über die persönliche Ebene: Man lernt die Studierenden vom Max Reinhardt Seminar oder von der MUK kennen, und dann tun sich Möglichkeiten auf.

Welche denn?

Am Anfang habe ich mich sehr mit dem öffentlichen Raum beschäftigt, und wir haben das Kollektiv „nicht.theater Ensemble“ gegründet, das sich damit auseinandergesetzt hat. In der Musterhaussiedlung bei der SCS haben wir 2013 die „Volksvernichtung“ von Werner Schwab gemacht, das ja in einem Wohnhaus mit mehreren Parteien spielt: Die Zuschauerinnen und Zuschauer konnten herumgehen und sich parallel die drei Familiengeschichten anschauen.

Und dann haben Sie doch Regie studiert – ab 2014 in Hamburg. Aber die Stadt hat Sie nicht sonderlich gereizt, oder?

Meine Mutter kommt aus Hamburg, als Kind habe ich dort immer die Weihnachtsfeiern verbracht. Aber als ich dort gelebt habe, merkte ich, dass die Kultur nicht zu mir passt. Ich schloss das Studium an der Theaterakademie ab, habe aber immer wieder in Wien gearbeitet.

So kam es, dass Sie am Schauspielhaus „Oxytocin, Baby“ von Anna Neata inszenierten: 2022 erhielten Sie den Nestroy-Preis „Bester weiblicher Nachwuchs“. Das war Ihr erster großer Erfolg?

Eigentlich „Medea“, meine Hamburger Abschlussinszenierung. Sie hat komplett ohne Sprache funktioniert. Mit ihr fing es an, dass ich an anderen Häusern arbeiten konnte.

Auch an der Burg: 2022 übertrug man Ihnen, doch noch recht unbekannt, die Uraufführung von Peter Handkes „Zwiegespräch“.

Eigentlich sollte Wim Wenders inszenieren. Aber er sagte ab. Und nach dem Erfolg von „Oxytocin, Baby“ kam der Dramaturg Sebastian Huber, der bereits „Medea“ gesehen hatte, auf mich zu. Ich glaube, sie haben gemerkt, dass dieser Text einen jüngeren Zugang braucht.

Sie haben das „Zwiegespräch“ auf mehrere Personen aufgedröselt – und die Handlung in eine Art Altersheim verlegt.

Ich habe aus dem Text herausgelesen: Jemand steht am Ende seines Lebens und formuliert die Angst, dass er nicht mehr gehört werden könnte. Handke hat das Stück ja Bruno Ganz und Otto Sander gewidmet. Und die beiden spielen im Film „Der Himmel über Berlin“ von Wenders und Handke himmlische Wesen, die alles mitkriegen, aber nicht ins Leben eingreifen können.

Ihre Inszenierung, zum Berliner Theatertreffen eingeladen, war auch unglaublich witzig.

Es gab Stimmen, die gemeint haben, dass die Inszenierung nicht respektvoll gegenüber Handke gewesen sei. Aber er fand sie toll. Weil er weiß, dass er eine Regie braucht, die seinem Text etwas entgegensetzt.

Und dann sollten Sie in Nürnberg Werner Schwabs „Übergewicht, Unwichtig: Unform“ machen?

Das war die grandiose Idee von Dramaturg Klaus Missbach. Und ich hatte ohnedies „Übergewicht“ schon lange im Hinterkopf. Die wenigsten Intendanten wollen andere Schwab-Stücke außer „Volksvernichtung“ und „Die Präsidentinnen“.

Auch diese Arbeit wurde zum Theatertreffen eingeladen. Und Jan Philipp Gloger, der Direktor in Nürnberg, schlug Ihnen vor, Hausregisseurin an seiner neuen Wirkungsstätte zu werden. Sie betreuen daher das „Wiener Volksohr“.

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Künstlerischer Lauschangriff: Das „Wiener Volksohr“ im Café Kreuzberg.

Genau. Das überdimensionale „Volksohr“ läuft schon rum in der Stadt – und hört den Menschen zu. Das ist ein Projekt, das ich gemeinsam mit dem bildenden Künstler Stephan Thierbach erfunden habe.

Aus dem Material soll ein Theaterabend entstehen – in der nächsten Saison. Zunächst stellen Sie sich mit „Geschichten aus dem Wiener Wald“ vor. Sie scheinen die österreichische Dramatik zu lieben?

Es gibt eine ganz andere Tradition, mit Sprache umzugehen, als in Deutschland. Der Ursprung liegt im Volksstück und bei Nestroy: Wie kann man auf subversive Weise die Obrigkeit entlarven? Das hat – stark verkürzt – dazu geführt, dass der Umgang mit Sprache eine eigene Kunstform geworden ist. Und das finde ich ganz toll für die Bühne.

Warum dieser Horváth?

Weil ich den Text derart dringlich finde. Als wir uns entschieden, ihn zu machen, gab es innerhalb einer Nacht fünf Femizide in Österreich. Die Gewalttaten an Frauen und die permanenten Übergriffe sind ein großes Problem, dem man sich nicht genügend annimmt. Weil es immer noch ein sehr patriarchales System gibt. Beziehungsweise: Gerade in einer Zeit der Krise, in der wir uns jetzt wieder befinden, greift man auf alte Muster zurück.

Der gewalttätige Oskar bedroht seine Verlobte Marianne massiv.

Nicht nur sie. Immer, wenn er davon spricht, dass die Sau abgestochen werden soll, kommt ein Mädchen über die Straße gelaufen – oder man hört Schülerinnen im zweiten Stock spielen. Das ist auffällig, wenn man den Text genau liest. Oder, gleich zu Beginn, zeigt sein Gehilfe Havlitschek mit seinem Messer auf ein Mädchen: „Dummes Luder, dummes (…) Am liebsten tät ich sowas abstechen.“ Das Stück ist 1931 rausgekommen – wie auch der Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. Damals hat sich Sigmund Freud intensiv mit dem Thema Frauenmord beschäftigt: Woher kommt diese wahnsinnige Aggression gegenüber jungen Frauen?

Weil sich Männer gegenüber starken Frauen unterlegen fühlen?

Es hat sicherlich mit Überforderung zu tun. Es macht Angst, wenn eine Frau in einer Gesellschaft, in der man gewohnt ist, dass die Hierarchien klar geregelt sind, das Bedürfnis hat, auf Augenhöhe mit dem Partner zu sein. In dem Moment, in dem die Frau ihre Bedürfnisse über die Bedürfnisse der Gesellschaft stellt, gerät das System ins Wanken.

Nicht unwichtig im Stück ist der aufkeimende Nationalsozialismus.

Denn es gibt immer auch eine Gegenbewegung. Das war, nach den Emanzipationsbestrebungen in den 1920er-Jahren, sicherlich einer der Gründe für das Erstarken des Faschismus – und der Idee der Frau zurück am Herd.

Das beobachtet man auch heute – an den „Tradwives“ in den USA.

Wir erleben einen Rechtsruck. Viele Menschen sehen in der Zeit der Krise autoritäre Strukturen und konservativere Familienstrukturen als Lösung.

Und das Ganze garnieren Sie mit selig machenden Walzer-Melodien.

Es werden eben mehrere Walzer erwähnt, nicht nur die „Geschichten aus dem Wiener Wald“, sondern auch „In lauschiger Nacht“ und „An der schönen blauen Donau“.

Das heißt: Der Abend wird recht lange dauern?

Nein, ich bin kein Fan von langen Abenden, sondern komprimiere gerne. Ich glaube, wir kommen mit weniger als zwei Stunden aus.

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