Goldener Löwe geht an Jim Jarmusch: Aufruf zur radikalen Empathie

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Der Goldene Löwe ging an Jim Jarmusch und sein leises Familienporträt „Father Mother Sister Brother“, die Tunesierin Kaouther Ben Hania gewann den Großen Preis der Jury für ihr Gaza-Drama „The Voice of Hind Rajab“.

„Oh Shit“, sagte ein sichtlich verblüffter Jim Jarmusch, als er den Goldenen Löwen in Venedig überreicht bekam. Der amerikanische Kult-Regisseur wurde zu seiner eigenen Überraschung für sein zurückhaltend erzähltes Familienporträt „Father Mother Sister Brother“ mit Cate Blanchett, Tom Waits und Charlotte Rampling in den Hauptrollen mit dem Höchstpreis des Filmfestivals ausgezeichnet. Selbst hinter seiner schwarzen Sonnenbrille konnte der immer coole 72-Jährige mit der unverkennbaren, weißen Haarmähne seine Rührung nicht ganz verbergen. Überschwänglich bedankte er sich für die hohe Anerkennung seines „leisen Films“.

Tatsächlich war „Father Mother Sister Brother“ für den Hauptwettbewerb des Filmfestivals in Cannes abgelehnt worden; umso größer daher nun die Freude über den Löwenpreis in Venedig, der ihm unter dem Preisjury-Vorsitz seines Landsmannes, dem US-Regisseur Alexander Payne verliehen wurde.

Mit seinem typisch lakonischen Humor erzählt Jarmusch in drei sehr sparsamen Episoden über die Schwierigkeit von Eltern, mit ihren erwachsenen Kindern zu kommunizieren. Tom Waits als überforderter Vater erscheint dabei genauso unbeholfen wie Cate Blanchett als verlegene Tochter: Beklommene Blicke und verlegenes Schweigen sorgen für sublimen Humor, aber auch unterschwellige Trauer.

Closing and Awards Ceremony - 82nd Venice Film Festival

Großer Preis der Jury für  die Tunesierin  Kaouther Ben Hani.

Der zweite große Preis des Festivals, der Große Preis der Jury ging an die tunesische Filmemacherin Kaouther Ben Hani und „The Voice of Hind Rajab“. Das von Brad Pitt und Joaquin Phoenix mitproduzierte Dokudrama erzählt die letzten Momente im Leben des palästinensischen Mädchens Hind Rajab im Gazastreifen. Das Kind starb im Jänner 2024 beim Fluchtversuch ihrer Familie aus der Stadt Gaza. Das Massaker vom 7. Oktober 2023 als Auslöser des Krieges wird nicht thematisiert.

Das zentrale Element von dem hoch emotional inszenierten Dokudrama ist ein echter Telefonmitschnitt: Während das Mädchen im vom israelischen Militär beschossenen Wagen zwischen getöteten Familienmitgliedern festsaß, telefonierte es mit Freiwilligen des Palästinensischen Roten Halbmonds und flehte um Hilfe. Die Retter, die sich auf den Weg machten, wurden dabei selbst getötet.

Kaouther Ben Hani nutzte ihre Dankesrede zu einer harschen Kritik an der israelischen Regierung.

Mit vergleichsweise unpolitischen Worten nahm der Amerikaner Benny Safdie einen Silbernen Bären für Beste Regie entgegen.

Safdie hatte die Jury mit einem herzhaften Bio-Pic über den Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Mark Kerr gewonnen, leidenschaftlich verkörpert von Ex-Wrestler Dwayne „The Rock“ Johnson. Er sei mit „radikaler Empathie“ an seine Figuren herangegangen, um ihre Menschlichkeit für das Publikum spürbar zu machen und sie miteinander zu verbinden, so Safdie.

Unter den italienischen Anwärtern im Wettbewerb wurde der profilierte Filmemacher Gianfranco Rosi mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. In seiner stimmungsvollen Doku „Below the Clouds“ beobachtete Rosi drei Jahre lang Neapel und seine Umgebung und das Leben der dort Ansässigen im Schatten des Vesuvs.

Die Verlierer

Viele große Namen hatten sich heuer am Lido versammelt und ihre Filme für die kommende Oscarsaison in Stellung gebracht. Besonders stark war Netflix mit drei Produktionen im Wettbewerb präsent – darunter Guillermo del Toros dröhnende „Frankenstein“-Fantasie mit einem famosen Christoph Waltz in knackiger Nebenrolle; Noah Baumbachs „Jay Kelly“ mit George Clooney als Schauspieler in der Krise, und Kathryn Bigelow mit ihrem packenden Comeback-Thriller „A House of Dynamite“. Sie alle gingen bei der Preisverleihung leer aus.

Auch europäische Regisseure wie Giorgos Lanthimos und seine Sci-Fi-Satire „Bugonia“ oder die Norwegerin Mona Fastvold mit dem Religionsmusical „The Testament of Ann Lee“ und Amanda Seyfried in der Hauptrolle konnten sich nicht durchsetzen.

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