Finale des Filmfestivals in Venedig: Über allen Gipfeln ist Ruh’

Viele deutsche Darsteller (im Bild: Enzo Brumm) und ein Ginkgobaum in „Silent Friend“ von Ildikó Enyedi.
Gäbe es nicht nur Preise für beste Filme, Regisseure und Schauspieler, sondern auch für beste Botanik, dann hätte ein Jahrhunderte alter Ginkgobaum die größte Chance. Er steht im botanischen Garten der deutschen Universitätsstadt Marburg und ist der Star des beseelten Films „Silent Friend“ der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi. Die deutsche Übersetzung des Titels lautet „Stille Freundin“, denn der Ginkgobaum ist – so erzählt es uns die wundersame Geschichte – eindeutig weiblich und Zeuge von den Sehnsüchten und Träumen dreier Generationen.
Ildikó Enyedi ist die wahrscheinlich bekannteste Regisseurin Ungarns und erhielt 2017 auf der Berlinale den Goldenen Bären für ihr leicht surreales Liebesdrama „Körper und Seele“. Ihr überwiegend in Marburg gedrehtes Triptychon „Silent Friend“ bildete zwar das Schlusslicht im Wettbewerb um den Goldenen Löwen, entließ aber sein Publikum in völliger Verzauberung. Enyedi erzählt auf drei historischen Zeitebenen und verwendete dazu jeweils unterschiedliches Material: 35mm-Film für eine Episode aus dem Jahr 1908, in der eine junge Frau namens Grete – bestens gespielt von der deutschen Darstellerin Luna Wedler – als erste Frau an der Universität inskribiert und sich einer eisernen Männerriege an Professoren und Mitstudenten stellen muss.

Hongkong-Star Tony Leung in seiner ersten eruopäischen Filmrolle: "Silent Friend"
Für eine Begebenheit Anfang der 1970er-Jahre hat sich die Regisseurin für die saftigen Farben des 16mm-Filmformats entschieden: Ein deutscher Student (Enzo Brumm) versucht, mit der Geranie seiner Kollegin zu kommunizieren, und bringt der Blume bei, auf Kommando die Gartentür zu öffnen.
Plaudern mit Blumen
In der pandemischen Gegenwart von 2020 schließlich besucht Tony Leung – der Hongkong-Star aus Wong Kar-Weis „In the Mood for Love“ in seiner ersten europäischen Filmrolle – in gestochen scharfen digitalen Bildern die Universität Marburg. Er verkörpert einen Neurowissenschaftler, der in der Einsamkeit des Lockdowns die „Sprache“ des Ginkgobaumes erforscht. Mit leichter Hand entwirft Enyedi ein Beziehungsgefüge, innerhalb dessen Menschen und Pflanzen in enger Verwandtschaft zueinander stehen. Feinsinnig verbindet sie die verschiedenen historischen Zeitebenen zu einem dichtverzweigten Erzählwerk und lässt die Sehnsüchte ihrer Protagonisten traumtänzerisch ineinanderfließen.
„Über allen Gipfeln ist Ruh‘“, singt Blixa Bargeld am Ende Goethes „Wandrers Nachtlied“ – und als dann im Abspann nicht nur die Namen der Darsteller, sondern auch aller Pflanzen genannt werden, reagierte das Publikum mit spontanem Applaus. Und so fand ein insgesamt spannender Wettbewerb in Venedig zu einem starken Finale.

Jesse Plemons glaubt an Außerirdische: "Bugonia“ von Giorgos Lanthimos.
Viele große Namen hatten sich heuer am Lido versammelt und ihre Filme für die kommende Oscarsaison in Stellung gebracht. Besonders stark war Netflix mit drei Produktionen im Wettbewerb präsent – darunter Guillermo del Toros dröhnende „Frankenstein“-Fantasie mit einem famosen Christoph Waltz in knackiger Nebenrolle; Noah Baumbachs „Jay Kelly“ mit George Clooney als Schauspieler in der Krise, und Kathryn Bigelow mit ihrem packenden Comeback-Thriller „A House of Dynamite“. Jim Jarmusch hatte seinen Fans mit dem dreiteiligen Verwandschaftsporträt „Father Mother Sister Brother“ ein lakonisches Stück Familiengeschichte serviert, während der sardonische Grieche Giorgos Lanthimos in der Sci-Fi-Satire „Bugonia“ seine Hauptdarstellerin Emma Stone von Jesse Plemons als mutmaßliches Alien entführen ließ.

Religiös: Amanda Seyfried in dem Musical „The Testament of Ann Lee“.
Unter den Schauspielern tat sich besonders der Ex-Wrestler Dwayne „The Rock“ Johnson hervor und demonstrierte in dem Mixed-Martial-Arts-Bio-Pic „The Smashing Machine“, dass er nicht nur kämpfen, sondern auch dramatische Rollen bewältigen kann. Amanda Sey-fried wiederum stach mit Gesang und Tanz in dem Religionsdrama „The Testament of Ann Lee“ der norwegischen Regisseurin Mona Fastvolds hervor: Als Gründerin der „Shaker“-Sekte im 18. Jahrhundert bewies sie, dass Frauen nicht nur beten, sondern auch predigen können.
Kommentare