Ist Ungleichheit ungerecht?

Es waren ihre Reisen nach Pakistan, die Rosa Lyon letztlich dazu motivierten, den wirtschaftlichen Dingen auf den Grund zu gehen. Schließlich ist die ORF-Reporterin, die derzeit als Korrespondentin aus der Türkei berichtet, studierte Volkswirtin und weitaus mehr daran interessiert als nur über Not, Armut und Ungerechtigkeit zu berichten, sondern auch zu hinterfragen: Warum ist die Armut so groß? Warum schreit die Ungerechtigkeit in so vielen Ländern buchstäblich zum Himmel?
Die Antwort darauf würde vermutlich eine unendliche Buchserie füllen, doch Lyon wendet ihren Blick hauptsächlich nach Österreich. Und stellt hier, bezogen auf umfassende wissenschaftliche Daten und Studien fest: Österreich gehört bei Vermögen zu den ungleichsten Ländern in Europa. Was weniger darauf zurückzuführen sei, dass die Einkommensunterschiede so groß wären – die Diskrepanzen zwischen den höchsten und niedrigsten Einkommen im Land halten sich im internationalen Vergleich durchaus in Grenzen. Wobei Lyon, wiederum auf Basis von Daten, klar und leicht verständlich auch für Wirtschaftslaien darstellt, dass sich aufgrund von Arbeitsleistung und Lohn in Österreich praktisch kein Vermögen mehr aufbauen lässt. Das Vermögen von morgen, das sei heute nahezu nur noch auf Basis von Erbe zu realisieren.
Geburtslotterie
Und da beginnt sie schon, die Ungerechtigkeit von morgen: Wer heute ein Haus oder eine Wohnung von den Eltern erbt, hat einen uneinholbaren Vorteil gegenüber jenen, die nur ihren Monatslohn erwirtschaften. Geburtslotterie nennt das Lyon, und die werde immer entscheidender.
Der große Vorzug dieses Buches ist es, dass es Rosa Lyon gelingt, eine große Bandbreite wirtschaftlicher Grundlagen und Thesen einfach und umfassend zu erklären, ohne zu simplifizieren oder zu langweilen. Aber auch ohne sich explizit für die eine oder andere Denkrichtung auszusprechen. „Für die Wirtschaft“, schreibt Rosa Lyon, „gelten keine Naturgesetze. Wirtschaft funktioniert so, wie die Gesellschaft sie gestaltet.“
Und die Gesellschaft debattiert oder streitet: Sind Vermögens- und Erbschaftssteuern unerlässlich, um die Ungleichheit im Land auszugleichen? Wobei der große Irrtum in der Debatte, meint die Autorin, schon beim Begriff Ungleichheit beginnt: Ideologisch sei er so aufgeladen, dass es fast schon einem Tabubruch gleichkomme, darüber auch nur zu reden. Sofort sei das persönliche Interesse, das persönliche Vermögen mit im Spiel.
Dabei sei Ungleichheit per se nichts Übles. Sie schaffe Anreize, belohne Innovation und Kreativität, sei schließlich der unverzichtbare Motor für eine dynamische Wirtschaft. Doch Ungleichheit kann auch schaden: Sie verhindert Chancengleichheit, führt zu Stress, macht buchstäblich krank, verkürzt die Lebenserwartung. Am Staat und seinen Wirtschaftsregeln liegt es also, das richtige Maß an Ungleichheit auszutarieren. Nur eines sollte man nie tun – und auch das belegt Rosa Lyon eindrucksvoll mit wissenschaftlichen Studien: Ungleichheit automatisch mit Ungerechtigkeit gleichsetzen. Ungerechtigkeit ist ein moralischer Begriff – Ungleichheit eine messbare Größe. Auf ihr Ausmaß kommt es an.

Rosa Lyon: „Mehr als Geld“, Brandstätter, 175 Seiten, 26 Euro
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