"Halbe Leben“ im Volkstheater in den Bezirken: Perspektive ist alles

Als Klara in den Abgrund stürzt, zeigt Paulíne keine Regung. Erst 45 Minuten später kontaktiert sie die Rettung. Wie es zur Katastrophe kam, schildert Susanne Gregor im Roman „Halbe Leben“ (Zsolnay). Mit dessen kompakter, 90-minütiger Dramatisierung von Milena Mönch eröffneten Julia Engelmayer und Anja Sczilinski, das neue Leitungsteam des Volkstheaters in den Bezirken, die Spielzeit.

Eine auf eine Wand gemalte Berglandschaft (Bühne und Kostüme: Sophie Rieser) reicht dieser Regisseurin, um die verschiedenen Welten dieser Frauen zu zeigen. Klara ist Architektin, hat aber nie gelernt, sich abseits ihres Berufs im Alltag zurecht zu finden. Denn ihre Mutter nahm ihr alles ab, auch die Erziehung der Tochter.
Als die Mutter einen Schlaganfall erleidet, soll sich, die 24-Stunden-Care-Arbeiterin Paulíne aus der Slowakei um die Mutter kümmern und den gesamten Haushalt übernehmen. Klara kehrt in ihren Job zurück, ihr Ehemann Jakob will noch ein Kind. Er weiß als Fotograf aus beruflicher Erfahrung: „Perspektive ist alles“.
Doch das Paar richtet seinen Fokus nur auf sich selbst. So kommt es, dass sie nicht merken, wie sehr ihre Angestellte darunter leidet, dass sie ihre Kinder in der Slowakei zurücklassen muss. Sie lassen ihr keinen Freiraum, doch Paulíne wagt es nicht, Nein zu sagen. Nur einmal, als ihr Sohn in der Slowakei ins Spital muss, will sie freibekommen.
Gespielt wird vom dreiköpfigen Ensemble absolut gut. Aleksandra Ćorović changiert als Paulíne zwischen einer selbstbewussten Pflegerin und einer Frau, die sich ausbeuten lässt. Anna Rieser zeigt Klara glaubhaft als verwöhnte, wohlhabende Ehefrau, die fürs praktische Leben keinen Sinn hat. Philip Kelz übernimmt großartig alle anderen Rollen, er ist Ehemann, Mutter, Tochter und sogar Hund.

Alle agieren in irritierendem rosa-weißen Karo, auch ein Chor, der beklemmend Schubert und Beatles-Lieder singt. Die Ankündigung von Volkstheaterdirektor Jan Philipp Gloger, „wir gehen in Extreme“, hat sich das bereits bei der ersten Premiere erfüllt. Denn die war extrem gut. Jubel.
KURIER-Wertung: Vier Sterne
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