Grundthema ist, dass das, wovon die Bibel berichtet, ja eigentlich im Globalen Süden stattgefunden hat. In jenem Teil der Welt also, der später unter dem Kolonialismus gelitten hat. Und der zuletzt für linke Wohnzimmerrevolutionäre, aber auch die Kunstszene ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist: Überall finden sich ehemals Unterdrückte, die man nun gewinnbringend vor den Vorhang holt. Hier nun sind es diejenigen, die die Jesus-Revolution miterlebt haben, aber nie ihre eigene Geschichte erzählen durften, Frauen, Arme, Unterdrückte.
Die titelgebende „andere Maria“, die hier das Evangelium erzählt, ist eine Mischung aus Maria Magdalena und Maria von Bethanien, der Schwester von Lazarus.
Letztere betreibt gemeinsam mit ihrer Schwester Martha ein Heim für arbeits- und obdachlose Frauen – und muss zusehen, wie ihr Bruder stirbt, weil den Armen niemand hilft außer der zu spät einhergeeilte Jesus.
Den Armen helfen also nur Wunder.
Auf der Volksopernbühne bieten das die Archetypen des Aufbegehrens dar, das bunte Personal des inklusiven Menschenbilds, das mit dem postkolonialen Blick offenbar wesensverwandt einhergeht. Alt und jung, binär und nonbinär, viele Frauen in tragenden Rollen – das sieht man sonst auf den Opernbühnen so nicht.
Gesungen wird eine Collage aus verschiedenen Gedichten mit durchgehend feministischem Blickwinkel, von Hildegard von Bingen über Louise Erdrich bis Dorothy Day: Die Errettung des Lazarus und die Wiederauferstehung Jesu werden dadurch mit modernen Freiheitskämpfen und Selbstermächtigungsrhetorik durchwirkt.
Die Inszenierung hält sich an den Oratoriumscharakter, manchmal laufen die Menschen auf der Bühne rum, manchmal kommen übergroße Tierköpfe oder ausführliche Fußwaschungen zum Einsatz (Regie: Lisenka Heijboer Castañón). Den ersten Akt bestimmt ein drehbarer Container, den zweiten der offene Raum.
Druck von oben
Der Hauptdarsteller ist die Musik (am Pult: Nicole Paiement) – und die ist phänomenal, insbesondere wenn man Chorgesang schätzt, was im Prinzip kein Fehler ist. Adams lässt die Chor-Stimmen ebenbürtig den Solisten wüten, in der Volksoper kommen sie meist von oben herab. Das Werk ist in vielen Momenten so etwas wie – wir bleiben im Thema – der heilige Gral der Neuen Musik: Lustvoll, emotional und ja, an vielen Stellen kann man mitsummen. Es ist halt mit drei Stunden viel zu lang.
Und die verschiedenen Farben, zu denen sich Text und Musik und die schönen (Counter-)Stimmen immer wieder neu mischen, werden so üppig, dass man eigentlich bald satt ist, aber noch viel vor sich hat.
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