"Nicht im Opernmuseum landen"

Ein Mann sitzt in einem eleganten, leeren Theater mit roten Samtsitzen.
Der Pariser Intendant Stéphane Lissner ist überzeugt, dass man gerade in der Krise mehr produzieren muss.

Der 62-jährige Musikmanager Stéphane Lissner leitet seit dieser Saison die Pariser Oper, präsentiert im kommenden Jahr ein spektakuläres Programm (siehe unten), war zehn Jahre lang Chef der Mailänder Scala und ist auch als Musikdirektor der Festwochen in Erinnerung. Was braucht ein zeitgemäßes Operntheater? Muss ein Intendant alle Arien kennen? Lissner im Interview.

KURIER: Sie haben angekündigt, die Pariser Oper zur Nummer 1 der Welt machen zu wollen. Nummer 1, was bedeutet das? Was sind heute dafür die Kriterien?

Stéphane Lissner: Das war ein Bonmot vor längerer Zeit. Ich will ja nicht den öffentlichen Wettkampf ausrufen wie im Sport. Mir geht es um das bestmögliche Programm. Darum, dass wir wie selbstverständlich Schönberg neben Verdi, Bartok neben Puccini spielen. Dass wir uns gleichrangig mit dem 20. Jahrhundert auseinandersetzen, mit den Sichtweisen von heute. Dass wir die großen menschlichen Themen behandeln und die humanistischen Werte hochhalten. Und all das mit den besten Sängern der Welt. Unser Motto heißt "Osez!" – traut euch!

Sie sind zwar bereits Intendant der Pariser Oper, also des Palais Garnier und der Bastille-Oper, das Programm dieser Saison hat aber noch Ihr Vorgänger Nicolas Joel geplant. Sie starten im Herbst mit extrem ambitionierten Projekten. Die erste Neuproduktion ist "Moses und Aron" mit Philippe Jordan am Pult und in der Regie von Romeo Castellucci. In der Folge kommen Regisseure wie Dmitri Tcherniakov, Andrzej Warlikowski, Alvis Hermanis, Claus Guth, Stefan Herheim und viele andere. Das sind lauter innovative Köpfe. Wie passt all das zum als konservativ geltenden Pariser Publikum?

Es stimmt, dass das Pariser Publikum konservativer ist als etwa das deutsche. Aber mir geht es darum, Traditionalisten und Erneuerer, Modernisierer und Bewahrer einander näherzubringen, im Idealfall die Kluft sogar zu schließen. Unterm Strich ist ja immer die Qualität das Entscheidende. Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung: Wir müssen neue Wege gehen, damit wir nicht im Opernmuseum landen.

Wie viele Neuproduktionen zeigen Sie in Ihrer ersten selbst geplanten Saison?

Insgesamt 18, neun Opern- und neun Ballettpremieren. Wobei eine Premiere, "Die Meistersinger von Nürnberg", aus Salzburg kommt, wo wir Koproduktionspartner waren. Von diesen neun Opern werden sieben im Fernsehen übertragen werden. Gerade in Zeiten der ökonomischen Krise müssen wir Flagge zeigen, offensiv programmieren und mehr produzieren als davor. Das ist die einzige Chance.

Das sagt Alexander Pereira, Ihr Nachfolger als Intendant der Mailänder Scala, auch.

Ich bin aber im Gegensatz zu Pereira nicht der Ansicht, dass Sponsoren die Lösung für alles sind.

Wie hoch sind die Subventionen für die Pariser Oper? Und wie hoch ist Ihr Budget?

Man muss immer berücksichtigen, dass wir zwei vollständige Theater haben. Insgesamt gibt es an der Pariser Oper 154 Tänzer, 164 Musiker und 110 Choristen. Das Gesamtbudget beträgt 205 Millionen Euro, davon kommen 98 Millionen aus Subventionen und 75 Millionen aus dem Ticketverkauf.

In der Wiener Staatsoper heißt es, man käme mit der finanziellen Ausstattung nicht mehr aus. Was läuft da falsch?

Dazu kann ich nichts sagen.

Sie waren jahrelang Musikdirektor der Wiener Festwochen unter Intendant Luc Bondy. In dieser Funktion wurden Sie oft kritisiert, weil das Opernprogramm nicht gerade üppig war. Wie sehen Sie das heute?

Wir hatten sehr schöne Erfolge in Wien, etwa "Aus einem Totenhaus" mit Pierre Boulez und Patrice Chéreau. Aber die Zeit in Wien war sehr schwierig. Ich wusste immer erst extrem kurzfristig, wie viel Geld wir für den Musikbereich zur Verfügung haben. Wir hatten viele schöne Projekte und dann plötzlich kein Geld dafür. So kann man nicht planen, das ist gegen jede Opernrealität.

Wer war schuld daran? Die Subventionsgeber? Die Festwochen selbst?

Die Politiker waren nicht schuld daran. Aber ich will auch nicht Luc die Schuld geben, oder Festwochen-Geschäftsführer Wolfgang Wais. Die Situation war einfach schwierig.

Dazu waren Sie auch relativ selten in Wien

Ich habe gleich zu Beginn gesagt, dass ich wegen der Mailänder Scala, wo ich Intendant wurde, wenig Zeit haben werde, in Wien zu sein. Da haben alle, bis hin zur Politik, gemeint, das sei kein Problem. Nach und nach wurde es aber doch zu einem Problem gemacht. Das ist alles nicht ideal gelaufen.

Sie waren insgesamt zehn Jahre Chef der Scala. Ist dieser Job nicht noch viel schwieriger?

Die Schwierigkeiten in Mailand kamen nie aus dem Haus, auch wenn es immer wieder heißt, die Gewerkschaften seien so kompliziert. Die Schwierigkeiten kamen immer von außen, von der Politik. Es ist traurig, wie ein Kulturland wie Italien mit der Kultur umgeht.

Als Sie nach Paris gingen und Pereira kam, wurde öffentlich über Ihre Gage diskutiert. Pereira soll 240.000 Euro pro Saison bekommen, Sie das Vierfache erhalten haben. Das wäre knapp eine Million. Stimmt das?

Das stimmt überhaupt nicht. Nicht einmal die Hälfte. Aber auch diese Diskussion hat gezeigt: Zuerst gibt man mir problemlos einen Vertrag, dann wird es plötzlich zum Problem gemacht.

Ihr Musikchef an der Scala war Daniel Barenboim, der sich vor vielen Jahren mit der Pariser Oper überworfen hatte. Wird er nun wieder in Paris dirigieren?

Kann ich noch nicht sagen.

Wird Ihr langjähriger Kollege Bondy bei Ihnen inszenieren?

Ja, aber erst später. Nach 2017. Bis dahin ist er Direktor des Pariser Odéon.

Wie lange läuft Ihr Vertrag?

Bis 2021. Und ich bin sehr glücklich, dass Philippe Jordan als Musikdirektor seinen Vertrag auch bis 2021 verlängert hat.

Sie haben so viele Theater und Festivals geleitet, von Bouffes du Nord bis zur Scala, von Aix-en-Provence bis zu den Festwochen. Nur mit den Salzburger Festspielen hat es nicht geklappt. Wie ist das gelaufen?

Ich wurde angerufen, ob ich mir die Leitung der Salzburger Festspiele vorstellen könnte. Ich habe gesagt: Ja, aber nur mit Daniel Barenboim als zentralem Dirigenten und als künstlerischem Kopf nach außen. Gerade in Salzburg wäre so ein großer Künstler im Zentrum wichtig. Der Intendant ist da nicht so entscheidend. Aber dann wurde nichts daraus, und Pereira ging nach Salzburg.

Sie waren zuletzt Gast in einer Fernsehshow, bei der man Ihnen fünf Arien vorgespielt hat: Von "Vissi d’arte" aus "Tosca" bis " Madama Butterfly". Sie haben ein einziges Werk, "Carmen", erkannt und ernteten viel Spott. Ist Ihnen so etwas peinlich oder ist das der Beweis, dass jeder Fehler machen kann?

Ich erzähle Ihnen jetzt, wie es dazu kam: Ich habe 45 Minuten vor Beginn der Sendung einen großen persönlichen Schock erlitten. Ich war völlig neben mir und unkonzentriert. Da kann so etwas passieren. Aber die Sendung war nicht live. Ich hätte danach leicht sagen können, man möge das nicht senden, wir haben darüber diskutiert. Aber meine Haltung war: Nein, it’s okay, ihr könnt das senden. Abgesehen davon bin ich nicht der Meinung, dass der Job eines Intendanten darin besteht, sämtliche Arien in allen historischen Aufnahmen zu kennen.

Was ist dann Ihre Definition?

Ich muss die richtigen Leute zusammenbringen, die richtigen Sänger und Dirigenten und die richtigen Regisseure für die richtigen Werke finden. Ich muss das viel globaler sehen. Es ist für einen Intendanten wichtiger, Bücher zu lesen, Ausstellungen zu besuchen und die zeitgenössischen Künstler zu verfolgen, als sich andauernd Opernarien anzuhören. Das würde mich auch nicht sonderlich interessieren.

In New York hat die Oper große Probleme, in Italien sowieso. Wie lange geben Sie den riesigen Operntankern wie etwa der MET noch an Lebenszeit?

Ich glaube selbstverständlich fest an die Zukunft, es ist immer nur entscheidend, wie man es macht. Ich glaube auch, dass es mir gelungen ist, an der Scala vieles zu verändern. Was die MET betrifft, frage ich mich, ob die Liveübertragungen ins Kino wirklich so hilfreich sind. Es kostet sicher Besucher in der Oper. Und wenn es eine schlechte Aufführung ist, ist das keine Werbung.

Wie beurteilen Sie die politische Lage in Paris nach "Charlie Hebdo"? Und nach den jüngsten Wahlergebnissen?

Das Attentat auf "Charlie Hebdo" war entsetzlich, aber es darf unsere Gesellschaft, unsere Offenheit nicht verändern. Mir macht Sorgen, wie stark die Rechtsextremen in Frankreich geworden sind.

Ist es nicht, angesichts echter Probleme, ein Luxus, immer noch Opern zu produzieren?

Nein, das ist im Moment besonders wichtig. Man muss mit Kunst auf die gesellschaftlichen Probleme antworten. Jedes Buch, das geschrieben, jedes Bild, das gemalt wird, ist ganz zentral. 900.000 Menschen pro Jahr kommen in unsere Vorstellungen, eine Million besucht darüber hinaus das Palais Garnier. Oper ist also definitiv kein Minderheitenprogramm.

aus Paris, Gert Korentschnig

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