Lou Reed
Im Wettbewerb lief zudem Wenders’ neuer Spielfilm „Perfect Days“ und rührte mit den zartfühlenden Beobachtungen eines japanischen Kloputzers die Herzen.
Hirayama – gespielt vom Schauspiel-Veteranen Koji Yakusho – arbeitet für „Tokyo Toilet“ und nimmt seinen Job überaus ernst. Mit dem Eifer eines Berufenen putzt er die öffentlichen Klos und kontrolliert mit dem Handspiegel, ob er Schmutzflecken übersehen hat. Auf dem Weg zur Arbeit im Auto legt er alte Kassetten ein und hört charismatische Popsongs von Otis Redding, Patti Smith und – in Anlehnung an den Filmtitel – Lou Reeds „Perfect Day“.
Wenders beobachtet die Alltagsroutinen seines einsamen Protagonisten mit dokumentarischer Einfachheit, aber in lyrischen Bildern. Erst nach und nach schleichen sich kleine Erzählmomente ein und dramatisieren das anscheinend so simple Leben von Hirayama, der vor allem die kleinen Schönheiten des Alltags genießt: Das Rauschen des Windes, das Spiel der Sonne in den Blättern.
Man spürt, dass Wenders mit dem Blick eines älteren Mannes schaut, für den das endlose Fortbestehen der Welt nicht mehr selbstverständlich ist. Jeder Sonnenaufgang ist ihm ein neues Ereignis, jeder Tagesanfang ein Geschenk. Die Kassetten mit ihren Pop-Stimmen aus den Sixties und Seventies tauchen wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit auf und rahmen die Gegenwart mit ihrer melancholischen Schönheit. „Lazin’ on a sunny afternoon“, singen The Kinks in Wim Wenders berührendstem Film seit Langem.
Nicht nur Wenders, auch die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller („Toni Erdmann“) lieferte zwei tolle Auftritte: Sie spielte in Jonathan Glazers Holocaust-Studie „The Zone of Interest“ die emotionstote Ehefrau von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss; und, in völlig diametraler Rolle, brillierte sie in Justine Triets Gerichtsthriller „Anatomie eines Sturzes“ als Mordverdächtige.
Alte Eiche
Zu jenen Regisseuren, die heuer durch die Frische ihres Alterswerks beeindruckten, zählt der unverwüstliche Ken Loach. Schon mehrfach hatte der 86-jährige Brite das Ende seiner Karriere prognostiziert, doch sein jüngstes Drama „The Old Oak“ sieht nicht nach Schlussmachen aus.
Mit der ihm unverwechselbaren Empathie für die britische Arbeiterklasse, erzählt Loach in seinem Sozialdrama „The Old Oak“ von einer abgewrackten Minenstadt im Norden Englands. Als eine Busladung von syrischen Flüchtlingen Station macht, rebellieren die Bewohner. Die eigene, soziale Misere wird dem der Asylsuchenden entgegengehalten und mit rassistischem Ressentiment aufgeladen. Besonders die trinkenden Männer in dem heruntergekommenen Pub „The Old Oak“ sind sich einig in ihrer Ablehnung. Erst die Freundschaft des Pubbesitzers mit einer jungen Syrerin schmiedet eine Form von Solidarität zwischen den Menschen, die Ken Loach fast schon verzweifelt beschwört. Wenn „The Old Oak“ tatsächlich sein letzter Film sein sollte, so würde er sein kämpferisches Gesamtwerk mit einer Hoffnung auf Versöhnung beenden.
Grabräuber
Man muss übrigens kein älterer Mann wie Wenders ein, um sich mit der Vergangenheit und ihrem Nachwirken in der (jüngeren) Gegenwart zu beschäftigen. Auch die 41-jährige italienische Filmemacherin Alice Rohrwacher lässt in ihren unvergleichlichen Filmen – wie zuletzt in „Glücklich wie Lazzaro“ – die Vergangenheit lange Schatten werfen.
In ihrer neuen Arbeit „La Chimera“ sind es etruskische Fundstücke, die ihre Fährte legen: Angeführt von einem Archäologen, gespielt von Josh O’Connor (Prinz Charles in „The Crown“), brechen eine Gruppe junger Italiener alte Gräber auf und verkaufen die Grabbeigaben. Den Streit um das historische Erbe fotografiert Rohrwachers exzellente Kamerafrau Hélène Louvart auf analogem Filmmaterial: Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen in ihren wunderbar weichen, ausgefransten Bildern, in denen der Kampf um die Geschichte ausgefochten wird.
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