Ein virtueller Disput der ESC-Kommentatoren

Fad? Alk-Trip? Gay-Party? Lustiges Brettspiel? Cool? Songcontest-Moderator Andi Knoll mit einem Porträt seines Vorgängers, Ernst Grissemann
Seit 45 Jahren erklärten nur zwei Männer den Österreichern die schräge Welt des ESC: Ernst Grissemann nennt ihn einen "immer faden Tatort", den jeder Provinzzirkus überflügelt. Sein Kommentatoren-Nachfolger Andi Knoll liebt ihn. Ein virtueller Disput.

Es ist kaum möglich, den Song Contest zu verstehen. Der beste Weg es zu versuchen, führt aber zweifelsfrei über Ernst Grissemann und Andreas Knoll, der sich selbst Andi nennt. Seit 1970 wird der Sing-Wettbewerb von den beiden Fernsehkommentatoren in österreichische Wohnzimmer begleitet, 28 Jahre von Grissemann, seit der Zäsur des Bewerbs 1999 von Knoll.

Was die beiden vom Song Contest halten, erschließt sich schon aus der Beantwortung der Anfrage für ein Doppelinterview: Während sich Knoll "sehr freut", sagt Grissemann aus Gesundheitsgründen so ab: "Ich habe Besuch: Lungenentzündung. Sollten beim endgültigen Ausbruch des Song Contests noch Reste meiner Pneumonie vorhanden sein, wäre das dann Multiorganversagen ..."

Seine Anekdoten, Erfahrungen und Meinung aus 45 Jahren ESC-Geschichte beschrieb Grissemann dem KURIER aber doch. Um sie mit Andi Knoll im virtuellen Doppelinterview besprechen zu können.

KURIER: War der Song Contest je glorreich? Und wird es ihn immer geben?

Ernst Grissemann: Glorreich war er nie, bombastisch gelegentlich (2014), teuer fast immer und fad immer.

Andi Knoll: Ja, Herr Grissemann, schon fad, aber man muss ihn sich lustig machen. Der Song Contest ist wie ein Brettspiel, das du zur Party machen musst. Ihn alleine mit Ernsthaftigkeit anzuschauen, ist langweilig. Er war vor 15 Jahren aber tatsächlich kurz davor, sich überlebt zu haben, sich in Protestsongs und Freak-Acts zu verlieren. Vor ein paar Jahren hat er sich aber das Leben gerettet. Und ja, es wird ihn immer geben, weil er in vielen Ländern zu erfolgreich ist. Er darf sich nur nicht schnell verändern, und nie das "Douze points" verlieren, die sind wie Papst-Insignien.

Grissemann: Der ESC war als kommunikationstechnisches Aperçu (Anhängsel, Zusatz, Anm.) gedacht, als 1956 ein halbes Dutzend Länder ihre Komponisten und Texter animierten, kleine Werke zu schreiben, die "europaweit" einem Wettbewerb unterzogen werden sollten. In einem Schweizer Café mit Podium, kleiner Musikkapelle und fünf Tischen sang Lys Assia den Siegersong, trat unter dünnem Applaus ab, während der Komponist linkisch die Trophäe in Empfang nahm.

Kann man die 60 Jahre in Epochen einteilen?

Grissemann: Mein erster ESC-Kommentar kam 1970 aus einer Sperrholzbox im RAI-Center Amsterdam – eine Art Turnsaal. Diese Boxen waren so hellhörig, dass ich nicht nur auf Qualität achten musste, sondern auch ohne Pause durchsprechen, um die Nachbar-Kollegen akustisch auszuschalten. Österreich nahm – weil beleidigt – nicht teil, das nahm der faden Kiste auch noch die Chance auf eine Art Höhepunkt. Bei meinem letzten Kommentar 1998 in Birmingham war zwar Technik und Ausstattung viel größer und teurer, von hinreißender Qualität war aber nichts zu spüren. Eine Kletternummer des deutschen Sängers war der "Höhepunkt". Jeder Provinzzirkus hätte das bravouröser in Szene gesetzt.

Sieger, Flitzer, Nieten der letzten 15 Jahre

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Donatan & Cleo representing Poland perform the son
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Titel: Song Contest 1999
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Ell and Nikki of Azerbaijan celebrate after winnin
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Loreen of Sweden performs her song "Euphoria" afte
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AZERBAIJAN EUROVISION 2012
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Eurovision Song Contest 2012
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Danish singer Emmelie de Forest performs during th
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EUROVISIONS SONG CONTEST 2013: PROBE NATALIA KELLY
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Donatan & Cleo representing Poland perform the son

1999 wurde der ESC dann groß reformiert. War Knoll bei seinem ersten Mal gut?

Grissemann: Knoll ist gut und sehr sympathisch. Er möge noch lange nicht die Nerven verlieren.

Knoll: Danke, Herr Grissemann. Von 1998 auf 1999 hat sich viel geändert: kein Live-Orchester mehr, Songs nicht mehr verpflichtend in Landessprache. Der Song Contest versucht etwas Neues, also auch der ORF. Grissemann sagte früher legendäre Sätze wie "Für uns dirigiert Richard Österreicher" und nannte Texter und Komponisten. Das interessiert heute niemanden. Seit 1999 bekommt auch die Sängerin oder der Sänger die Trophäe, nicht mehr der Komponist. Es ist ein Artist Contest geworden.

Oder eine "Freakshow", sagt der legendäre BBC-Moderator Terry Wogan. Herr Grissemann, Sie zitieren Wogan damit gerne.

Grissemann: Diese Bezeichnung ist wohl eher Terrys etwas rauen Art zuzuschreiben. Er fragte mich mal, warum ich den Job mache, und als ich sagte, weil ich gerne aus verschiedenen schönen Gegenden berichte, sagte er wörtlich: "Ich auch. Aber was passiert? Wir treffen uns jedes Jahr pünktlich in Dublin!"

Apropos: Wieso gewinnt Irland (7 ESC-Siege, zuletzt 1996) nicht mehr, seit Knoll kommentiert?

Knoll: Die Veranstaltung hat sich gewandelt. Das alte Europa hat sich nie so richtig auf die neuen Bedingungen eingestellt, die es seit der Ostöffnung gibt. Wir sind jetzt der ganze Kontinent, es ist eine noch offenere Veranstaltung. Terry Wogan sagte nämlich auch: "Ich will nicht nach Estland fahren, da gibt es keine schönen Hotels." Und Irland hat wie andere den Zug der Zeit versäumt, so kann man wahrscheinlich nicht mehr gewinnen. Wir Österreicher wussten auch lange nicht, was wir tun sollen. Ich dachte Anfang der 2000er-Jahre ans Aufhören, mir fiel nichts mehr ein, dem Song Contest fiel nichts mehr ein, belanglose Musik von teils untalentierten Musikern. Darum waren Auftritte wie von Alf Poier so erfolgreich, weil es damals viele Protestwähler gab. Mit der Einführung der Semifinali kam noch mehr Schrott. Ein wenig wie ein Zombieball am Samstagabend, das hatte nichts mit echter Musik zu tun. Jetzt ist es wieder zeitgenössische Popmusik mit ein bisschen Freakshow. Es geht um die Mischung. Und ich liebe diese Veranstaltung auch, weil Schrott dabei ist.

Liebe, ein starkes Wort. Wie zynisch darf man als Liebender gegenüber dem ESC sein? Andi Knoll ist ja eine Mischung aus dem seriösen Kommentar des Ernst Grissemann und den satirischen FM4-Kult-Kommentaren seines Sohnes Christoph (mit Dirk Stermann).

Knoll: Was sich liebt, neckt sich, aber man darf es nicht hinrichten. Wenn man das Publikum mit eigener Befindlichkeit und Zynismus belästigt, wird es peinlich. Das hatte sich ja bei Wogan eingeschlichen. Nicht alle schauen den ESC wegen des Horrorfaktors. Er ist noch immer die größte Musikshow der Welt.

Aber so richtig im Ohr blieben nur die Siegernummern von früher. Aus den vergangenen 20 Jahren kennt man fast nix mehr.

Grissemann: "Waterloo" von ABBA und ein paar weitere Schmonzetten hätten es auch sicher ohne das teure Fuhrwerk Song Contest geschafft, Welthits zu werden. Auch Künstler wie Udo Jürgens hätten ohne den ESC-Schub erreicht, was sie erreicht haben. Der Sinn des Song Contests besteht schon lange darin , sich selbst zu feiern. Für die Unterstützung junger Talente tut jede Castingshow mehr.

Knoll: Stimmt. Aber heute sind die Umstände anders, das Internet kam dazu und Castingshows spucken verlässlich jedes Jahr neue Künstler aus, zu denen man sogar schon über Wochen eine Bindung aufgebaut hat. Der Song Contest ist diesbezüglich absurd: Man bekommt eine Menge Lieder von Sängern präsentiert, die man gar nicht kennt. Aber früher gab es einen Fernsehsender pro Land, einen Radiosender und da spielte man dann eben den Sieger des "Grand Prix Eurovision de la Chanson", wie er früher hieß.

Hat sich der Song Contest auch durch diese Entstaubung zu einem Highlight in der Schwulenbewegung entwickelt?

Grissemann: Keine Ahnung. Zu meiner Zeit waren die Partys beim ESC keine Gay-Partys, sondern eher ein Alk-Trip. Aber ich war nur am Anfang dabei, ab 1984 fuhr ich bloß zum Briefing und zur Generalprobe an den Tatort, den Live-Kommentar erledigte ich gemütlich am Küniglberg. Der Zuschauer hat nämlich ein Recht auf gute Tonqualität und der Kommentator ein Recht darauf, seine Arbeit in angenehmer Atmosphäre zu erledigen.

Knoll: Man muss unterscheiden: Für das Fernsehpublikum gilt das nicht, wenn sich über eineinhalb Millionen in Österreich den ESC anschauen, so viel Schwule gibt es ja nicht. Für die Partys stimmt es, mir fällt kaum eine Veranstaltung ein, zu der so viele Schwule kommen. Der Life Ball ist ja mittlerweile "heteroer" als der Song Contest. Aber es kann keiner begründen. Nur die Nacktheit und die Tänzer und die Opulenz sind es nicht, es gibt ja viele Schwule, die das gar nicht cool finden und nicht automatisch aufgeregt sind, weil eine Federboa geschwungen wird.

Gibt es ein Patentrezept für den ESC-Sieg?

Knoll: Es gibt eines für Erfolg: Sei Schweden! Liege geografisch günstig, habe eine Altlast an Erfolg, jedes Jahr perfekt inszenierte Songs und Künstler. Und ein bisschen Glück. Oder bring Conchita. Wobei man schon sagen muss, das war der Erfolg des Tom Neuwirth, der Conchita kreiert hat, es war sein Alleingang. Die coole Entscheidung des ORF war, das man ihren Auftritt zugelassen hat. Aber gewinnen ist schwierig. Der Song Contest ist nicht der Skiweltcup, mit Seriensiegern.

Zu den Personen: Kommentatoren-Box

Ernst „The Voice“ Grissemann
Der 81-jährige Tiroler gilt als bekannteste Radiostimme des Landes, machte sich aber auch als Journalist, Mitgründer des Radiosenders Ö3, Hörfunkintendant und Schauspieler einen Namen. Von 1970 bis 1998 kommentierte er mit drei Ausnahmen die TV-Übertragung des Song Contests, von 1983 bis 2007 jene des Neujahrskonzerts.

Andreas „Andi“ Knoll
Knoll kam 1972 in Innsbruck zur Welt, fünf Jahre nach der Gründung des Radiosenders Ö3,
bei dem er 1994 seine Moderatorenkarriere begann – von „Treffpunkt Ö3“ bis zum „Wecker“. Seit seinem TV-Debüt beim Song Contest 1999 moderiert er regelmäßig Hauptabend-Shows, unter anderem die Vorentscheidung zum ESC und „Die große Chance“, Magazin-Formate und vom Life Ball.

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