Simon Stone im Burgtheater: Gespenster und Gräuel in Ibsens "Ferienhaus"
1969: Die Familie gratuliert Carl (Michael Maertens) zum Erfolg. Doch er fährt brutal über alle drüber.
Irgendwann fällt das Wort „Komplize“ – als sei es ein Selbstzitat. Denn tatsächlich hat „Das Ferienhaus“ von Simon Stone viel von „Komplizen“. Damals, 2021, erzählte der australische Theatermacher in der Burg von „Kindern der Sonne“, die in einem von Glasfronten dominierten Bungalow hoch über Wien, möglicherweise in der Himmelstraße, wohnen.
Auch jetzt steht ein solcher im Zentrum. Nicht in Grinzing, sondern an einem See nahe Salzburg. Carl Albrich hat ihn 1964 bauen lassen, dort verbringt die Großfamilie ihre Urlaube. So heißt denn auch der erste Teil des langen Netflix-Live-Abends „Paradies“. Aber wie es eben kommen muss, wartet nach dem Sündenfall das „Purgatorium“ (Fegefeuer), und dann folgt das „Inferno“. Zum Schluss, nach knapp vier Stunden, steht der Bungalow – Bühnenbildnerin Lizzie Clachan zitiert Ludwig Mies van der Rohe – in Flammen.
Doch so einfach macht es sich Simon Stone nicht. Für „Komplizen“ hatte er zwei Stücke von Maxim Gorki über das Auseinanderbrechen der Gesellschaft in Besitzende und Besitzlose kompiliert: Die Revolution war unausweichlich. Nun zog er fast alle Plots von Henrik Ibsen heran, um eine gar monströse Familiensaga zu konstruieren.
Aber im Gegensatz zu „Komplizen“ erzählt er sie nicht linear. Die Dramaturgie folgt eher dem Konzept von Quentin Tarantino für „Pulp Fiction“: Das Abfackeln des Bungalows passiert 2004, aber bereits eineinhalb Stunden davor, gleich nach der Pause, wird es nach einem nur erwähnten Brand wiederaufgebaut. Da schreibt man das Jahr 2015.
Dass die Geschichte nicht über die damaligen Ereignisse in Europa hinausgeht, hat einen Grund: Die Uraufführung unter dem Titel „Ibsen Huis“ fand 2017 in Amsterdam statt. Simon Stone verpflanzte sie jetzt nach Österreich. Und er achtet mit seinem Team (Kostüme von Mel Page und Emma White) enorm auf Zeit- wie Lokalkolorit. (Minifehler: Godard-Filme kann man 1969 nicht im erst 1981 eröffneten Stadtkino gesehen haben.)
Amüsante Bonmots
Stone bietet wieder großes Kino. Und zunächst sind all die ausgebreiteten Traumata mit amüsanten Bonmots garniert. Aber man muss ob der andauernden Zeitsprünge schon genau aufpassen. Zumal es für fast jede Figur eine jüngere und eine ältere Variante gibt. Was auch dazu führt, dass der Sohn von Carl (Thiemo Strutzenberger) im Geisterhaus auf sein jüngeres Ich (Tristan Witzel) trifft.
Doch die Geschichte des schwulen Sebastians (der Name verrät es: eine Märtyrer-Figur) ist ein eigener Kosmos. Er infiziert sich um 1986 mit HIV und bittet schließlich seine Mutter, ihn zu erlösen. Strutzenberger packt, herumirrend, ungemein bei seinem langen Monolog mit sanfter Resignation in der Stimme. Doch insgesamt wirkt diese en passant mitgenommene Tragödie wie ein Fremdkörper. Sie lenkt vom zentralen Thema der Lebenslüge und vor allem des Missbrauchs in der Familie ab. Zudem verliert man im Lauf des Abends manche Figuren aus den Augen: Sie verschwinden einfach im Sumpf.
So hat sich Stone um den fulminanten Erfolg gebracht (auch wenn es Standing Ovations gab). Ihm gelingen aber immer wieder hinreißende Stafettenübergaben über Jahrzehnte hinweg, und er lässt Szenen parallel spielen. Nach der Pause fallen gar zwei Zeitebenen in eins: Der Bungalow ist eingerüstet, erstarrt, die Handlung wechselt brutal zwischen 1964 und der Restaurierung 2015.
Natürlich muss man an „Das Fest“ von Thomas Vinterberg denken. Es steht aber niemand auf, um den Patriarchen bloßzustellen: Carl wird immerzu verteidigt. Er sei eben ein Genie, und Genies sind schwierig. Er ist jedoch, wie sich aus den vielen Szenen-Puzzlesteinen, ergibt, ein wahres Ungeheuer. Michael Maertens zeigt ihn unglaublich plastisch durch alle Jahrzehnte: vom Stararchitekten, der seinen Neffen Daniel (in erster Linie: Michael Wächter) miserabel behandelt, bis zum dementen Greis mit heruntergezogener Hose.
Stilles Erdulden
Das Erstaunliche ist: Jeder, der wollte, konnte mitbekommen, was vor sich geht. Denn der bis zur Pause fast ununterbrochen auf der Drehbühne rotierende Bungalow erlaubt alle Einblicke. Die Albrichs sitzen quasi in der Auslage. Man sieht in alle Zimmer, auch ins Bad, wenn singend geduscht wird. So viel Transparenz wollte Carl gar nicht (den Bungalow hat ja auch Daniel entworfen).
Aber wenn man ganz genau schaut, wird man im Gang eine Türe entdecken, die in einen Raum ohne Fenster führt. Er ist daher nie Schauplatz, auch wenn er für das Verborgene und Abgründige steht. Und die eine oder andere Figur fühlt richtiggehend, dass dieser Bungalow ein Geheimnis birgt.
Die meisten aber dulden still – wie Carls Ehefrau Johanna im zartrosa Barbie-Kostüm (in erster Linie: Franziska Hackl). Oder sie erkranken – wie Carls verzweifelter Bruder Thomas (Roland Koch). Aus der Wahnsinnskonstellation bricht nur Caroline, dessen Tochter, aus: Sie wird ein Flower-Power-Girlie im Drogenrausch (sprühend: Leonie Rabl) und kehrt als resolute, den Scheinfrieden störende Alkoholikerin zurück (brüsk: Birgit Minichmayr).
Aus der Familienaufstellung herausgenommen hat sich einst auch Frederike (Elisabeth Augustin), die Mutter von Carl und Thomas; das Kartenhaus zum Einsturz aber bringt jemand von außen: Caroline Peters wütet, wenn sie als Katrin, ehemalige Lebenspartnerin von Lena, das Ausmaß der Katastrophe durchschaut. Eine furiose Show.
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