„Anatomie eines Falls“ (derzeit im Kino) gewann in Cannes die Goldene Palme. Sandra Hüller ist es, die aus einem packenden Gerichtssaaldrama einen faszinierenden Beziehungsthriller macht. Nur für sie hat die französische Regisseurin Justine Triet die Rolle der Sandra Voyter geschrieben.
„Ja“, gibt die deutsche Schauspielerin im KURIER-Interview zu: „Das hat mich sehr glücklich gemacht.“
In „Anatomie eines Falls“ seziert Justine Triet die Szenen einer einst glücklichen Ehe, die in tödlicher Trennung endet. In mitreißenden Rückblenden rekapituliert sie die Dynamik eines ungleichen Paares: Er, Samuel, ist erfolgloser Schriftsteller und Hausmann. Sie, Sandra, ist Bestsellerautorin und karriereorientiert. Was in wechselseitiger Bewunderung beginnt, endet im Vorwurf. Ob Sandra Schuld am Tod ihres Mannes trägt, bleibt in Schwebe. „Ich habe mich dazu entschieden, sie als nicht schuldig zu spielen“, erzählt Hüller: „Aber ich wollte, dass man ihr alles zutrauen kann.“
Wenn man einer Schauspielerin alles zutraut, dann Sandra Hüller. Erstmals fiel sie auf in Hans-Christian Schmids Exorzismus-Drama „Requiem“ von 2006: Für ihr Spiel als Studentin, die im Zuge einer Teufelsaustreibung stirbt, erhielt sie den Silbernen Bären der Berlinale.
Toni Erdmann rockt
Dann kam 2016 „Toni Erdmann“ und die Welt lag flach. Gemeinsam mit dem erst kürzlich verstorbenen Peter Simonischek rockte Sandra Hüller das Haus. In einer legendären Szene riss sie sich für eine spontane Nackt-Party die Kleider vom Leib. „Du schämst dich nicht, das ist deine Superkraft“, wirft Samuel in „Anatomie eines Falls“ seiner Frau vor.
„Ich persönlich schäme mich ganz oft“, gibt Sandra Hüller zu: „Aber das ist auch ein Hebel in unserer Gesellschaft: Dass man Frauen für ihr Verhalten beschämt. Und manchmal entschuldigen sich Frauen gleich von selbst für ihr Verhalten: ,Ich entschuldige mich dafür, dass ich so stark bin. Ich entschuldige mich dafür, dass ich so viel Geld möchte. Ich entschuldige mich dafür, dass ich Zeit für mich möchte.’ Aber Sandra Voyter entschuldigt sich nicht. Sie lebt ihre Freiheit und gesteht sie auch anderen zu. Und genau das macht sie für manche Menschen bedrohlich. Sie wird als Provokation empfunden.“
Ja, sie mochte Sandra Voyter sehr gern, sagt Sandra Hüller: „Sie hat viele Eigenschaften, die ich auch gerne hätte. Sie ist mir ein großes Vorbild.“
Im Gegensatz zu anderen Gerichtsfilmen, in denen Frauen (zu Unrecht) angeklagt werden, verzichtet die Beschuldigte in „Anatomie eines Falls“ darauf, sich je als Opfer hinzustellen. Sie zieht keine Register, versucht nie, die Zuhörer für sich einzunehmen, sondern verblüfft mit einer Geradlinigkeit, die besonders Frauen gerne als Kälte ausgelegt wird – und den Ankläger im Kreuzverhör extra stark anstachelt: „Die Schonungslosigkeit, mit der sie ehrlich antwortet; die Selbstsicherheit, die sie darin hat – das alles fasziniert mich. Und wenn das für ihr Gegenüber unangenehm ist, ist das die Verantwortung des Gegenübers und nicht ihre.“
Dass Sandra Voyter kein astreines Französisch spricht, macht sie ebenfalls verdächtig: „Ich finde es interessant, wie sich das eigene Empfinden, die Stimme, manchmal sogar der Körper verändert, wenn man eine andere Sprache spricht“, meint Hüller, die für den Film ihr Schulfranzösisch aufpoliert hat: „Die Bewertung anderer Leute hängt viel davon ab, ob wir sie verstehen oder nicht. Justine Triet macht hier auch eine sehr politische Aussage.“
Trotz ihrer Gefasstheit in der Öffentlichkeit durchläuft die angeklagte Witwe starke emotionale Momente, die Hüller in meisterlicher Nuanciertheit – bis hin zur Panikattacke hinlegt: „Das war sehr schwer, aber gehört einfach dazu. Justine Triet und ich haben lange darüber geredet, wie diese Panikattacke aussehen könnte. Dann habe ich verstanden, dass es sich um eine Art Nervenzusammenbruch handelt und versucht, mir das vorzustellen. Woher das dann beim Spielen kommt, womit das privat oder mit meinem Leben verknüpft ist, kann und will ich nicht offenlegen.“
Kommentare