Beweis erbracht: Dieser Plot interessiert heute keinen mehr

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„Le Passé“ von Julien Gosselin nach Leonid Andrejew als Gastspiel bei den Salzburger Festspielen: Die Produktion ist zum Glück Vergangenheit.

Die Festspiele ahnten wohl, welches Trojanische Pferd sie sich mit dem Gastspiel „Le Passé“ eingehandelt hatten: Vorsorglich wurden gar keine Karten für den Balkon des Landestheaters angeboten. Und trotzdem blieben bei der Salzburg-Premiere am Montag im Parkett etliche Sitze leer. Nach der Pause sogar mehr als die Hälfte.

Wie schon vor etwas mehr als zwei Jahren bei den Wiener Festwochen (mit „Extinction“) sorgte der in Frankreich gefeierte Regisseur Julien Gosselin für einen Exodus in der Pause (nach knapp zweieinhalb Stunden). Man kann es den Abtrünnigen nicht verdenken: Was ihnen geboten worden war, hatte mit dem, was bisher als festspielwürdig gegolten hatte, wenig zu tun. Der Befund über das Theaterprogramm 2024 bestätigte sich eindrücklich: Schauspielchefin Marina Dawydowa, mittlerweile geschasst, konzipiert lieber experimentelle Festwochen. 

Gosselin wollte zweierlei: Einerseits mit unheimlich altbackenem Flair demonstrieren, dass manches definitiv überkommen ist. So gab es als Beleuchtung eine Batterie Kerzen an der Rampe, der Vorhang öffnete sich schwer quietschend. Und andererseits wollte er einen echten Kostümschinken drehen – live auf der Bühne beziehungsweise eher auf der Hinterbühne, untermalt mit einem fulminanten, emotionsverstärkenden Kino-Soundtrack (wie bei „Extinction“ von Guillaume Bachelé und Maxence Vandevelde).

Leider hatte er sich nicht „Anna Karenina“ ausgesucht, sondern Werke des Russen Leonid Andrejew, der immer im Schatten von Tschechow und Gorki stand. Durchaus begründet, wie sich in den vier Stunden reiner Spielzeit zeigte. Denn das Stück „Jekaterina Ivanovna“, das als Basis dient, ist einfach nur geschwätzig. 

Mit exorzismuswürdiger Stimmme

Die Titelheldin wird von ihrem Mann, einem Politiker, bezichtigt, ihn betrogen zu haben. Und ist der Ruf einmal ruiniert, kann man ungeniert zur Ehebrecherin werden. Der Katja wird aber alles zu viel: Sigmund Freud hätte wohl die damalige Modekrankheit Hysterie diagnostiziert. Vielleicht hat auch nur ein böser Teufel von Katja Besitz ergriffen: Aus Victoria Quesnel spricht mitunter eine verstörend tiefe, exorzismuswürdige Stimme.

Hinzu kommt, dass der Langeweile im zaristischen Russland neben Alkohol nur mit Affären beizukommen ist. Jeder hat was laufen – oder probiert es zumindest. Und schon ist der Plot der Soap, die heute keinen mehr interessiert, fertig. Der Titel von Gosselins Beweisführung heißt daher „Le Passé“, also „Die Vergangenheit“. 

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Aber man sieht nicht viel davon in den naturalistischen Bühnenbildern: Die wahren Dramen spielen sich zum Beispiel hinter den Vorhängen ab. Der Voyeur aber darf alles in Nahaufnahmen sehen – auf der hoch darüber montierten Leinwand. Auch wenn man weiter hinten sitzt, glaubt man, im Wiener Kino „De France“ eine OmU-Fassung zu sehen: Man kriegt mit der Zeit gewaltig Nackenstarre. 

Ohne Verlust an Gehalt hätte radikal gestrichen werden können. Doch Gosselin lässt sein Ensemble jeden Dialog, jede Liebelei ausspielen. Und nicht nur das: Er reichert die Handlung auch noch mit Erzählungen und einem weiteren Stück von Leonid Andrejew an. Weil er nicht nur einen Kostümschinken, sondern auch einen expressionistischen Trickfilm über erste Samenergüsse und patriarchale Gewalt drehen wollte. In den düsteren, apokalyptischen Prosatexten gibt es tatsächlich erstaunliche Sätze: „Die neue Zeit war noch nicht da, die alte aber schon zu Ende gegangen.“ Aber auch das Grande Finale mit Katja als wild tanzende Salome zu einer unglaublich wummernden Musik vermag nichts mehr zu retten. Diese Produktion ist zum Glück Vergangenheit. 

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