Salzburger Festspiele: Das ist russischer Wahnsinn – bravourös

Vladimir Sorokin lässt seine „Schneesturm“-Novelle atmosphärisch um die Jahrhundertwende beginnen: Ein Landarzt namens Garin muss dringend nach Dolgoje. Dort sei eine Epidemie ausgebrochen, er habe die Vakzine bei sich. Doch es sind keine Pferde verfügbar. Der Stationsvorsteher, der sich nicht dem Vorwurf der Sabotage aussetzen will, findet einen Ausweg. Und so macht sich der Arzt mit einem Brotkutscher, in der deutschen Übersetzung „Krächz“ genannt, und dessen „Mobil“ auf dem Weg.
Schon bald mischen sich leichte Irritationen in die Erzählung. Der Landarzt trägt einen Parka und eine Trappermütze mit Fuchsschwanz. Von der (kruden) Epidemie hat die Bevölkerung aus dem Radio erfahren. Und das „Mobil“ wird von 50 Pferdchen in Rebhuhngröße angetrieben. In Windeseile nähert sich das Geschehen der Gegenwart – und taucht ein in eine Fantasiewelt, bevölkert auch von einem erfrorenen Riesen.
Das Schicksal des Landarztes ähnelt jenem des im Winter angereisten Landvermessers in Franz Kafkas „Das Schloss“: Beide scheitern (wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, aber angesichts einer übergeordneten Instanz). Im Falle der Odyssee von Garin stellt sich zumindest heraus, dass der Weg – das Leben – das Ziel ist.
Diesen Weg illustriert Kirill Serebrennikov, der im Berliner Exil lebende, ehemalige Direktor des Moskauer Gogol-Zentrums, hinreißend. In seiner Dramatisierung, die am Samstagabend auf der Perner-Insel von Hallein nach drei Stunden frenetisch wie stehend bejubelt wurde, schickt er ein sonderbares Herr-Knecht-Gespann los.
Nach Langenweiler
Und er stiftet in der Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus sanft Verwirrung. Denn August Diehl, anfangs ein resoluter Herrenmensch, will nach Langenweiler (diesen Ort gibt es tatsächlich in Deutschland). Er bezahlt in Bundesmark (statt mit Silberrubel). Und er versteht kein Russisch, auch wenn er, Papirossa rauchend, einen Russen verkörpert.
Sein Kutscher hingegen, „Perkhusha“ gerufen, palavert mit heller Stimme zumeist in seiner Muttersprache. Aber Filipp Avdeev, 1991 in Moskau geboren, meistert auch die deutschen Passagen mit Bravour – gebückt und lamentierend, aber herzensgut.
Die Reise durch den Schneesturm (im Sommer!?) wird bereits nach ein paar Kilometern jäh gestoppt: Eine farblose Pyramide hat eine Kufe gespalten; der Doktor weiß Rat: mit elastischer Binde und „Superkleber“.
Der magische, glasklare Körper wird noch einmal auftauchen. Und auch der Mond wird in einem Video zu sehen sein. Im Gegensatz zum Pink-Floyd-Album zerlegt Serebrennikov das Licht nicht in Farben: Er beschränkt sich auf Weiß und Schwarz. Kunterbunt wird es trotzdem.

Als sei es ein SF-Film: Filipp Avdeev und August Diehl auf dem „Mobil“, einem Schlitten, der von 50 „Pferdis“ angetrieben wird
Denn das „Mobil“ ist auf der Bühne eine Art Karussell: ohne Pferde zwar, auf denen man sitzen könnte, aber die „Pferdis“ hängen unten dran. Zugleich ist dieses Ding eine Zeitmaschine im Stil von Terry Gilliam (im SF-Film „Twelve Monkeys“ geht es ja auch um eine Epidemie): Wie Kosmonauten mit Plexiglashelm kämpfen sich Diehl und Avdeev durch die Schnee-Galaxis. Close-ups ihrer Gesichter, arg verzerrt, sieht man dahinter auf kreisrunden Projektionsflächen. Nebenbei werden Erinnerungen an die „Solaris“-Verfilmung von Adrei Tarkowski nach dem Roman von Stanisław Lem wach.
Zugleich führt Serebrennikov die Reise im Modell-Format vor Augen: mit einem winzigen „Mobil“ auf einem extrem langen Winterlandschafts-Band an der Rampe. Riesig vergrößert kann man die Fahrt auch hoch oben auf einer schmalen Leinwand verfolgen (Tipp: die beste Sicht gibt es nicht von den teuersten Plätzen!). Und wenn der Schlitten mit den beiden Figürchen derart klein ist, wird ein normaler Mensch zum Riesen.
Ein Winter-Varieté
Das Werkl am Laufen hält der Schneesturm, eine Truppe aus Musikern (darunter großartig Malika Maminova) und Schauspielern. Sie manchen das Naturereignis hörbar (mit Windmaschinen und Plastikschlangen), sie umgarnen und lullen ein. Serebrennikov und Vlad Ogay haben sie in weiße Schutzanzüge (Epidemie!) gesteckt, aber auch mondän eingekleidet, denn mitunter driftet das Spektakel auf dem Laufsteg ins Varietéhafte ab: Es wird gesungen, getanzt, gesteppt. Zumeist aber (und eine Spur zu oft) wirbeln sie mit Gebläse die Flocken hoch. Nebenbei schlüpfen sie in diverse Rollen; Varvara Shmykova zum Beispiel betört als mannstolle Müllerin im Fatsuit den Landarzt, der gerne seinen Auftrag aus den Augen verliert.

Mit der Zeit wird August Diehl zum Nervenbündel: Er erlebt eine Achterbahnfahrt der Gefühle, entäußert sich und mutiert zu einem irren Klaus Kinski. Denn immer wieder gibt es Grenzerfahrungen im Gestöber (ähnlich wie bei Thomas Manns „Zauberberg“, der 2024 bei den Salzburger Festspielen dramatisiert worden war). Ein fulminanter Ritt. Irgendwann sagt er: „Das ist russischer Wahnsinn!“ Wie wahr.
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