Richard Gerstl (1883–1908) hat die späteren Wege von Munch, Kokoschka und Corinth vorweggenommen. Er malte nur, was er sah: Gesichter, Körper, Landschaften.
Unter seinen rund 20 Selbstporträts herausragend: das lachende Selbstbildnis, direkt und provokant, die große, Selbstbewusstsein ausstrahlende, blau leuchtende Darstellung mit durchdringendem Blick, nacktem Oberkörper und weißem Lendenschurz von 1902/’04 sowie der rund zwei Monate vor seinem Suizid entstandene Akt: Der zeigt ihn schonungslos nackt, abgemagert, mit entblößtem Geschlecht und weckt Assoziationen an ein ähnliches Sujet von 1509 Albrecht Dürers, das derzeit in der Albertina zu sehen ist.
„Richard Gerstl. Inspiration – Vermächtnis“ im Leopold Museum ist von den Kuratoren Hans-Peter Wipplinger und Diethard Leopold – in Kooperation mit dem Kunsthaus Zug – als Dialog inszeniert.
Einerseits die in nur rund sechs Jahren entstandenen aufregenden und ungewöhnlichen Werke eines Protagonisten von Wien um 1900, der sich stilistisch und inhaltlich der Wiener Secession widersetzte, deren Schönheitsbegriff ablehnte und gegen tradierte Regeln anmalte.
Andererseits Exponate der klassischen Moderne, u.a. von Vincent van Gogh, Edvard Munch, Pierre Bonnard oder Lovis Corinth, und der internationalen Kunst nach 1945, von Willem de Kooning, Francis Bacon oder Eugène Leroy. Außerdem von Gegenwartskünstlern, für die Gerstl Inspiration war und ist: Martha Jungwirth, Arnulf Rainer, Herbert Brandl, Georg Baselitz oder Günter Brus.
Für das Leopold Museum, seit Kurzem im Besitz des Archivs des Kunsthistorikers Otto Breicha, der an der Wiederentdeckung des lange vergessenen Malers maßgeblich beteiligt war, ist die Schau zudem ein Forschungsprojekt.
Wipplinger: „Wir präsentieren viele wichtige, auch erstmals publizierte Dokumente zu Leben und Werk, die uns auch bei Zuschreibungen helfen.“ So sprechen einige Indizien dafür, dass ein Bild aus Innsbruck kein Selbstporträt ist, sondern den Dirigenten und Komponisten Heinrich Jalowetz zeigt.
Denn Gerstl liebte die Musik, hatte Arnold Schönberg als Freund, bis er durch seine kurze, buchstäblich fatale Liaison mit dessen Ehefrau Mathilde gesellschaftlich geächtet wird. Er malt 1906/ ’07 Alban Bergs Schwester Smaragda und 1908 Alexander von Zemlinsky.
Wobei er seinen Stil variiert. Je nach Motiv. Wie sehr er von van Gogh beeindruckt war, wie er selbst betonte, zeigen seine Landschaftsbilder von 1906. An Goya denken lassen „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“ (1905), die uns gespenstisch aus weißen amorphen Gesichtern mit schwarzen Augen anblicken.
Aber wirklich Neuland betritt er vor allem mit seinen letzten Bildern, für die es nichts Vergleichbares gibt zu seiner Zeit. Mathilde Schönberg malt er im Sommer 1908 noch zweimal in spätpointillistischer Manier, die sie als wenig attraktive Matrone zeigen. Irritierend auch die Ästhetik in den Bildern der Schönbergs, deren Gesichter verfremdet, grotesk, pastos verkleistert sind.
Da geht ein immer noch zu wenig bekannter Maler der Wiener Moderne bis an den Rand der Abstraktion. Ein Berserker der Farben, dessen Bilder und Porträts bis heute mit ihrer Intensität beeindrucken.
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