Das Internet wird zu einem "Volkspranger"
Ein Mann ist in der US-Großstadt Chicago erschossen, ein US-Polizist erschießt einen Schwarzen bei einer Polizeikontrolle - und alles wird live ins Netz übertragen. Dank Streaming-Anbietern wie Facebook-Live oder Periscope kann praktisch jeder immer und überall sehr einfach Livebilder ungefiltert in die Welt schicken. Was diese Bilder mit uns machen und warum das Internet zu einem "Volkspranger" wird, erklärt Medienwissenschaftler Ramón Reichert im Interview mit dem KURIER.
KURIER.at: Kurz nachdem Philando Castile am 6. Juli in Falcon Heights, Minnesota, von einem Polizisten angeschossen wurde, hat seine Freundin ein Facebook-Live-Video davon gemacht – Menschen haben live zugeschaut, wie sich sein weißes T-Shirt rot einfärbt, wie er das Bewusstsein verliert. Was machen diese Bilder mit uns?
Ramón Reichert: Livebilder haben in den sozialen Medien eine ungebrochene Konjunktur, sind aber nicht gänzlich neu. Seit es YouTube gibt, also seit mehr als elf Jahren, berauschen wir uns an der scheinbaren Unmittelbarkeit und Authentizät von digitalen Bewegtbildern. Auch die „Liveness“ ist nicht gänzlich neu. Man könnte fast sagen, dass wir mit der „Liveness“ auf eine gewisse Weise wieder zur Fernsehübertragung der Echtzeit zurückkehren. Möglicherweise haben Medienkonsumentinnen und Medienkonsumenten, die einer On-Demand-Gesellschaft aufwachsen, ein gesteigertes Bedürfnis nach Echtzeit, die man gemeinsam mit anderen erleben und teilen kann. Für ein stark fragmentiertes und individualisiertes Online-Publikum könnte die „Liveness“ von Bewegtbildern einen starken Anreiz bilden, Medienerfahrung wieder gemeinsam zu erleben. Diese Sehnsucht nach einem gemeinsam geteilten Wahrnehmungsraum ist größer als der Schrecken, der von den gesehenen Bildern ausgeht.
Es ist aber doch anders – weil es jeder tun kann, nicht nur ein TV-Sender.
Ja, es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Jeder kann heute Livebilder im Internet verbreiten und damit auf eine sehr einfache Weise Aufmerksamkeit herstellen. Da der Bildermarkt von Livebildern heute einen beinahe unkontrollierten Boom von unten nach oben (down-top) erlebt, setzen sich vor allem Bilder durch, die einen spektakulären Schauwert versprechen. So gesehen imitieren Amateurvideos die Skandalisierung der klassischen Massenmedien (oder abwertend: der sogenannten Boulevard-Medien).
Früher waren es die klassischen Samstag-Abend-Shows, die live waren – ist das etwas, das den Menschen abgegangen ist, dieses Moment des Unvorhersehbaren?
Nein, das gab es ja auch schon im Internet 1.0. Bereits 1996 hat eine 21-Jährige über die „JenniCam“ ihr gesamtes Leben live übertragen. Heute kommen aber neue Möglichkeiten dazu, die Authentizität von Online-Bildern aufzuwerten: Mark Zuckerberg spricht in diesem Zusammenhang von der Kommerzialisierung der Livebilder. Man kann Livebilder an ein Massenpublikum richten. Die Maximierung von massenmedialer Aufmerksamkeit ist für die Werbung interessant. Es gibt aber auch die Überlegung, Livebilder an ein elitäres Publikum adressieren, das bereit sein muss, für die Exklusivität von Bildern zu zahlen. Hier entsteht ein neuer zahlungskräftiger Markt für Livebilder. Denn das Publikum erwirbt sich exklusive Schauwerte, um etwa einem Star mit Hilfe von Livebildern nahe zu sein. Die Medialität der Nähe hat also in diesem Zusammenhang ihren Preis.
Wobei die Webcams statisch waren, und jetzt tragen wir sie mit uns herum.
Und jeder kann die Welt panoptisch übertragen und sichtbar machen. Da muss man die Konsequenzen bedenken: Es können zum Beispiel simple Delikte live ins Netz übertragen werden. Das Internet wird hier zu einer Art „Volkspranger“ der Diffamierung, der Verfolgung. Denken Sie an den vielgerühmten Roman von Dave Eggers „The Circle“, der eine digitale Gesellschaft beschreibt, in der alle mit Hilfe von andauernd aktivierten Livekameras die Möglichkeit haben, alle scheinbar lückenlos zu überwachen. Das sind neue politische Probleme, die auf uns zukommen und die wir diskutieren müssen.
Ich muss rund um die Uhr damit rechnen, gefilmt und sogar live ins Netz übertragen zu werden. Das ist – wenn auch nicht systematisch – eigentlich schon die totale Überwachung.
Die haben wir sowieso schon durch die Videoüberwachung. Wir werden andauernd ungefragt zum Objekt einer globalen Bilderproduktion und -verbreitung. Das ist ein Kontrollverlust, den wir gar nicht hoch genug einschätzen können. Jedes Bild kann beliebig oft reproduziert werden, das sehen wir jetzt, wenn jemand stirbt, dann werden die Facebook-Profile geplündert, um sogenannte Gedenkvideos herzustellen. Private Bilder können von Nutzerinnen und Nutzern beliebig oft angeeignet werden, um z.B. Fanvideos zu erstellen. Es herrscht also der Eindruck vor: alles, was im Netz zirkuliert, gehört allen und kann öffentlich verarbeitet werden.
Aber selbst wenn ich kein Facebook-Profil habe, kann ich nicht verhindern, dass andere Menschen Fotos von mir hochladen – ich kann mich dem also sowieso nicht verweigern.
Was dafür sorgt, dass wir eine virtuelle Existenz haben, die andere für uns führen, wenn sie zum Beispiel Fotos von uns hochladen. Das können wir auch nicht verhindern, weil die Verbreitungsgeschwindigkeit so hoch ist. Wir reden jetzt von der „post privacy“, man hat sich dem Schicksal schon ergeben, dass jeder im Netz befindliche Inhalt immer schon Allmendegut (öffentliches Gut) ist. Ich sehe das sehr skeptisch, dass man diesen Entzug von Privatsphäre einfach akzeptiert. Ich glaube schon, dass es da noch Spielräume gibt. Ich muss nicht auf What’s App gehen, das dann Zugriff auf mein gesamtes Adressbuch hat. Ich kann mir auch Alternativen suchen.
Aber die Alternativen haben sich nicht durchgesetzt – und die Liveübertragungen setzen sich jetzt auf Facebook durch, wo es für alle mühelos zugänglich ist. Und es hat natürlich etwas Faszinierendes, wenn das ein weltweites Phänomen wird, wenn man sich zunächst einen Livestream aus dem Kongo anschaut und dann einen aus Texas.
Wenn man in die Zukunft schaut, könnte man sich fragen, welche neuen gesellschaftlichen Praktiken daraus entstehen. Es wird sich ein Markt von Kleinstkameras entwickeln, die ganz einfach zu tragen sind, und man wird sich den Alltag dieser Person abonnieren können. Wo vielleicht auch ein Exotismus mitschwingt – eben den Alltag von jemandem an einem entfernten Ort miterleben. Und was tun diese Menschen dann, um Zuseher zu binden? Die werden ihren Alltag zum Spektakel machen. Das gibt es ja jetzt schon auf YouTube, dass sich Jugendliche in extreme Situationen bringen, um ein Massenpublikum zu erreichen.
Es funktioniert aber auch emanzipatorisch: „Cop Watcher“ filmen in den USA Amtshandlungen – um Beweismaterial zu haben, wenn die Amtshandlung aus dem Ruder läuft.
Es ist natürlich auch ein Ermächtigungsdiskurs: ich kann das live ins Netz stellen und mich über die Sichtbarmachung ermächtigen. Es dient der Community-Bildung und dem Aufzeigen von Ungerechtigkeiten. Das gibt es ja auch schon, seit es leicht transportable Kameras gibt. Rodney King ist da ein Beispiel – das war in den Neunzigern. Die Frage ist: Was können diese Bilder leisten? Das Gebrauchswertversprechen dieser Bilder besteht vor allem darin, Evidenz und Augenzeugenschaft herzustellen. Diese Engführung kann zwar in bestimmten Kontexten extrem hilfreich und nützlich sein, aber wenn Livebilder derart mit Wahrheit und Echtheit aufgeladen werden, dann können sie auch als Werkzeug von politischer Manipulation missbraucht werden.
Was heißt das für Medien – wird denen damit noch mehr Deutungshoheit genommen?
Das kann man so oder so sehen. In einer totalitären Gesellschaft ist das Internet ein Befreiungsmedium, und als Möglichkeit, Inhalte zu verbreiten, die in den klassischen Medien gar nicht verbreitet werden können. Da gibt es ganz andere Sichtweisen und Diskurse. Nur berührt das nicht das Thema der „Liveness“ – dabei geht es um ein ganz anderes Versprechen als bei einer seriösen, gehaltvollen politischen Diskussion über die Ereignisse, die stattgefunden haben. Und die auch einer gewissen Reflexion bedürfen.
Die Livebilder versprechen einen unmittelbaren Zugang zur Welt, wenn sie in Aussicht stellen, dass die Zuseher sich alles aneignen können, was in der Welt passiert. Die Zuseher sind aber nur scheinbar Augenzeugen, denn sie sind in erster Linie Voyeure, die vom eigentlichen Geschehen abgetrennt sind. In diesem Sinne sind die Zuseher nur in einer oberflächlichen Sichtweise Akteure, die sich einfach so Welt aneignen können. Denn es entgeht ihnen ja auch andauernd Welterfahrung, indem sie diese nur mittels der Bildschirme passiv und beobachtend (aber nicht teilnehmend) konsumieren können.
Es ist eben nicht die Realität, auch wenn es den Anschein hat?
Genau. Und der Punkt ist der, dass wir den Dingen wirklich glauben. Aber oft stimmen sie einfach nicht. Es gibt so viele Möglichkeiten, auch Live-Bilder zu manipulieren. Roland Barthes hat schon in den Sechzigern über die Verführungskraft von Schockfotos geschrieben. Die mir als Rezipient gar keinen Raum mehr lassen, ich kann nur noch sagen: „Wow, ich bin überwältigt.“ Es ist Affekt und Emotion, eine reflexive Distanz ist da kaum mehr möglich. Diese Reflexion, dieses Nachdenken über die Macht und die Kraft der Bilder, müssen wir uns zurückerobern.
Es gibt aber, gerade was die Erschießungen von Schwarzen bei Routinekontrollen angeht, auch den Gegendiskurs, der die Emotion begrüßt: Jetzt sehen wir, wie es Schwarzen bei Verkehrskontrollen wirklich geht; jetzt sehen wir, wie schnell geschossen wird. Die Unmittelbarkeit und die Emotion rufen vielleicht ein Mitgefühl hervor, das auf einer rationalen Ebene nicht erreicht wird.
Das kann man so sehen. Die Frage ist: Wer sieht sich die Bilder an? Werden sie als Sozialporno konsumiert? Ich bin da etwas skeptisch. Ich würde vielmehr nach den Handlungsmöglichkeiten fragen und was nach dem Ansehen der Bilder in Gang gesetzt wird. Können die verbreiteten Livebilder von Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit zivilgesellschaftliches Handeln aktivieren? Oder bleibt es beim sogenannten One-Click-Activism, der politisches Handeln und Reflektieren mit einem einzigen Klick kompensiert?
Dahinter steht für Sie aber immer ein gewisser Voyeurismus?
Ja klar. Der bei der „Liveness“ noch mehr bedient wird. Weil ich sie nicht steuern, stoppen oder wiederholen kann. Ich bin dem Ereignis viel stärker ausgeliefert. Und es ist ein Kontrollverlust, den ich genießen kann.
Der noch einmal dadurch verstärkt wird, dass es „Liveness“ unter viel unkontrollierteren Bedingungen ist, weil Amateure senden, keine TV-Anstalt.
Die Faszination dieser Bilder liegt darin, Zugang zu einem anderen Leben zu haben, dass ich selbst so nie leben könnte oder jemals gelebt habe. Da die Online-Zensur Sexualität unterdrückt, werden gewaltaffine Videos den Bildermarkt überschwemmen.
Und es wird vermutlich nicht lange dauern, bis der IS oder irgendeine andere Organisation Hinrichtungen live übertragen.
Wobei auch das etwas ist, das bereits passiert ist: Im Vietnamkrieg wurden Exekutionen in der Primetime übertragen. Für die einen stellt die Liveness eine Art der Zuschauerbindung dar (in diesem Fall dient sie zur Mobilisierung und Rekrutierung), zahlreiche westliche Zuschauer verweigern sich diesem Blick der Medusa, der sie vor Schrecken nur versteinern lassen würde und werden möglicherweise einen reflektierten Ekel vor dem Bild und seiner Verbreitung kultivieren. Die entscheidende Frage wird aber sein, wie können wir – wie einst Perseus – den Schrecken der Schreckensbilder wieder an die Adressaten zurückschicken, um diese mit ihrem eigenen Schrecken blenden zu können?
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