Während in den USA die Wählerstimmen ausgezählt wurden und Staaten sich nacheinander rot oder blau färbten, war ein anderes Wettrennen um die „popular vote“, den Publikumszuspruch der Amerikaner, gerade knapp entschieden: In der Erhebung des Magazins Rolling Stone konnte Luke Combs mit der Powerballade „Forever After All“ den Spitzenplatz um den meistverkauften und -gestreamten Song für sich entscheiden.
„Billboard“ sieht den etwas korpulenten, bärtigen Sänger aus North Carolina bei den Singles noch knapp hinter Teen-Star Ariana Grande. Combs’ Album „What You See Is What You Get“ ist aber nach einer Neuauflage auch hier (wieder) auf Platz eins – obwohl es schon seit 51 Wochen in der Wertung ist.
Man darf also sagen, dass Luke Combs ein Wahlsieger ist – und dass Country Music, diese in europäischer Perspektive häufig so klischeebeladene und missverstandene Musikgattung, in den USA derzeit als kulturelle und kommerzielle Kraft Hochkonjunktur hat.
Kumpels unter sich
Dabei wäre es ein Fehler, die Geschmacksgrenzen parallel zu politischen Bruchlinien zu ziehen und das Territorium des Country-Publikums mit „roten“ Staaten und Trump-Unterstützern gleichzusetzen. Die neuen Crossover-Stars wie Combs zeichnen sich viel eher dadurch aus, dass sie das Minenfeld der politischen Zugehörigkeiten mit ihren Pickup-Trucks großräumig umfahren.
Die besagten Fahrzeuge werden dafür in den aktuellen Mainstream-Country-Songs gern besungen, ebenso damit verbundene Freuden wie Landausflüge zum Fischen oder Jagen, bei denen man mit seinen Kumpels gern mal ein paar Biere kippt: „Beer Never Broke My Heart“ hieß einer von Combs’ Hits aus dem Jahr 2019. Die Musik dazu kennt jaulende Steel-Gitarren und Geigen ebenso wie Soul, HipHop und muskelstarken Stadion-Rock.
Wegen des maskulinen Gehabes nannte man derlei Musik eine Weile „Bro Country“ (Bro = Brother, auch Kumpel oder Freund). Doch in den vergangenen Jahren zog, auch mit Blick auf das weibliche Fanpotenzial, ein Wandel ein: Der Männertyp wurde weicher und sensibler, bis zu dem Punkt, in dem Interpreten sich darin erschöpfen, ihre Angebetete hemmungslos anzuschmachten: „Gentleman Country“ und „Boyfriend Country“ nennt man dieses Phänomen.
Pantoffelhelden
Luke Combs nimmt sich von alldem ein bisschen und bricht es teils sanft ironisch auf; in seinem Song „Beautiful Crazy“ schläft die Geliebte lockdownkonform beim Fernsehen auf der Couch ein. Es ist durchaus aussagekräftig, dass die Hausschlapfen-Marke Crocs heuer zum dritten Mal ein limitiertes Luke-Combs-Modell (mit Felleinlage!) auf den Markt bringt.
Wer nun aber denkt, dass populäre Country Music im Jahr 2020 völlig depolitisiert ist, irrt: Insbesondere der Mord an George Floyd und die „Black Lives Matter“-Bewegung hat Stars des Genres stärker als zuvor dazu gebracht, Farbe zu bekennen.
Selbst die Großmeisterin im Nicht-Deklarieren, Dolly Parton, trat zuletzt ungewohnt klar gegen Rassismus auf. Andere Künstler nahmen die Romantisierung der „alten“ – sklavenhaltenden – Südstaaten unter die Lupe. Das Trio „Lady Antebellum“ (Antebellum steht hier für „vor dem Bürgerkrieg“) kürzte seinen Namen auf „Lady A“ ab und geriet darüber prompt mit einer schwarzen Sängerin gleichen Namens in Streit.
Ohne Romantisierung
Die „Dixie Chicks“ änderten ihren Namen auf „The Chicks“ und sangen beim demokratischen Parteitag 2020 die US-Hymne. Was es heißt, sich mit dem konservativen Amerika anzulegen, erlebte die Gruppe 2003: Nach abschätzigen Bemerkungen über den damaligen Präsidenten George W. Bush liefen Fans in Scharen davon.
2020 gibt es die erzkonservativen Country-Stars und -Fans nach wie vor – aber auch die progressiven und rebellischen Stimmen, die das Genre immer wieder hervorbrachte: Country Music ist vieldeutig wie die USA selbst. Und nicht selten ist die Musik das Letzte, was die gespaltene Bevölkerung heute noch einander näher bringt.
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