Peter Gelb: "Das wäre sonst ein Todesurteil"

Marlis Petersen, die Lulu an der New Yorker Metropolitan Opera: Am Samstag im Kino zu erleben.
Der New Yorker MET-Chef Peter Gelb über Oper im Kino und die Notwendigkeit neuer Zugänge.

Am Samstag (18.30 Uhr) wird weltweit in Kinos Alban Bergs "Lulu" live aus der New Yorker Metropolitan Opera zu sehen sein. Marlis Petersen singt die Titelpartie – nach dieser Produktion zieht sich die weltbeste Lulu von dieser Rolle zurück. Lothar Koenigs dirigiert, die gefeierte Inszenierung stammt vom südafrikanischen Künstler William Kentridge.

Die Live-Übertragungen in HD-Qualität wurden von Peter Gelb eingeführt, der nun die zehnte Saison an der Spitze des renommiertem Operntheaters steht. Der MET-Direktor im Interview.

KURIER: Wie viele Menschen haben in diesen zehn Jahren MET-Opern live im Kino gesehen?
Peter Gelb:
Wir haben bisher 18 Millionen Kino-Tickets verkauft. Die USA sind der größte Markt. Aber 65 Prozent kommen aus anderen Ländern. Der größte Markt außerhalb der USA ist der deutschsprachige mit Österreich und Deutschland.

Wie erklären Sie sich diesen Erfolg – immerhin gilt Oper ja als Genre, das man live im Theater erleben sollte.
Die Kinoübertragungen sind eine ganz andere, aufregende Art von Entertainment. Das Publikum kann durch die Close-ups, durch die Szenen hinter den Kulissen eine neue Art von Oper entdecken.

Die aktuelle "Lulu" zeigt eine völlig neue Ästhetik. Regisseur William Kentridge macht die Bühne zu seinem eigenen Kunstwerk. Wie wichtig sind solche zeitgemäßen Produktionen neben traditionellen wie etwa der "Turandot" aus den 70ern von Franco Zeffirelli?
Es ist essenziell, dass jedes Theater, das ein lebendiges sein will, ständig neue Arbeiten zeigt. Wir können nicht nur in der Vergangenheit leben. Das wäre sonst ein Todesurteil für ein Opernhaus. Wir erneuern und revitalisieren regelmäßig das Repertoire. Seit ich hier bin, haben wir etwa 70 neue Produktionen herausgebracht. Wir werden auch Kernwerke wie "Traviata" neu machen.

Zuletzt haben Sie die berühmte Salzburger "Traviata" in der Regie von Willy Decker gespielt. Ist die nicht mehr zeitgemäß?
Ich liebe diese Produktion. Aber sie war nicht darauf ausgelegt, ewig im Repertoire zu sein. Michael Mayer wird 2018/’19 bei unserer neuen "Traviata" Regie führen. Derselbe Regisseur, der bei uns "Rigoletto" inszeniert hat. Dieser spielt im Las Vegas der 1960er Jahre.

Sie setzen nach Schostakowitschs "Nase" bei "Lulu" schon zum zweiten Mal auf Kentridge. Was zeichnet ihn so sehr aus?
Kentridge ist einzigartig innerhalb der bildenden Künstler, weil er auch ein großer Filmemacher ist. Wir brauchen für die Oper Künstler mit großen visuellen Ideen. Wie auch Simon McBurney. Oder Robert Lepage ...

... der bei Ihnen den "Ring" inszeniert hat, der als teuerste Opernproduktion aller Zeiten gilt und im Moment nicht gespielt wird. Wann wird dieser "Ring" wiederkommen?
Auch 2018/’19. Lepage wird aber schon nächstes Jahr an der MET "L’amour de loin" von Kaija Saariaho inszenieren. Dafür wird er elastische Bänder über die Bühne spannen, an denen 48.000 LED-Lichter befestigt sind. Diese sorgen für völlig neue Perspektiven und können etwa einen ganzen Ozean darstellen. Lepage hatte die Idee vor zehn Jahren und wartete nur auf die richtige Produktion. Das sind die interessantesten Regisseure der Welt, die optische Zugänge suchen, die es davor nicht gab. Sie sind die theatralischen Erfinder unserer Zeit.

Die MET gilt als Opernhaus mit einem großteils traditionellen Publikum. Wie riskant sind solche radikal neuen Zugänge?
Ein Leben ohne Risiko ist nicht lebenswert. Unser Publikum will, dass die MET auch ein Risiko nimmt. Mein Job ist es, dem Publikum nicht das zu geben, was es erwartet, sondern etwas darüber hinaus. Würde ich das Publikum fragen, was es sehen will,würde es vielleicht sagen: jeden Tag "Turandot" von Zeffirelli. Aber wenn diese Menschen dann etwas Neues sehen, wie den "Rigoletto", subversiv, aber auch sehr schön mit dieser Las-Vegas-Optik, sind sie oft begeistert. Außerdem gibt es einen Unterschied zwischen einem blinden, dummen Risiko und einem kalkulierten, das gute Aussichten auf Erfolg hat. Freilich funktioniert nicht alles. Aber ich glaube, unser Schnitt ist nicht schlecht.

Bei Ihrer ersten Saisonpremiere, Verdis "Otello", gab es eine bis Europa hörbare Debatte darüber, dass der Protagonist erstmals in der Geschichte der MET im Gesicht nicht schwarz angemalt war, dass es also kein rassistisches Blackfacing gab ...
Ich glaube nicht, dass die Debatte so groß war. Sie wäre bestimmt größer gewesen, wenn wir nicht entschieden hätten, mit diesem Anachronismus aufzuhören. Es war die richtige Entscheidung. Auch wenn sie von manchen kritisiert wurde, weil sie politisch korrekt war. Aber die meisten haben eine eine Befreiung gefühlt, nicht mehr einem schwarz angemalten weißen Sänger zuschauen zu müssen. Die Isolation von Otello, sein Leiden, die ganze Geschichte funktioniert bestens ohne Blackfacing.

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