Nick Cave tourt solo durch Europa: Ein Prophet erklärt sich selbst

Immer nahbarer: Nick Cave auf einer Archivaufnahme aus Lissabon bei seiner „Wild God“-Tour im Herbst 2024.
Großer künstlerischer Anstrengung bedurfte es nicht, um die Gunst des Publikums an jenem Abend zu gewinnen. Standing Ovations gab es für Nick Cave im römischen Auditorium Parco della Musica am Montagabend bereits, als er die Bühne betrat – und bevor die erste Note erklungen war.
Nick Cave war erst Ende 2024 auf großer Europa-Tournee und ließ sich für sein Album „Wild God“ (verdient) bejubeln. Jetzt ist er – als sei er nie weg gewesen – zurück. Lediglich seine Band, die Bad Seeds, hat er nach Hause geschickt. Der 67-Jährige tourt solo – nur mit seinem Flügel und begleitet von Radiohead-Bassist Colin Greenwood.
In Österreich macht Cave (wie schon zuletzt) nicht Station. Er sei nur noch in Städten unterwegs, die ihm gefallen, lässt er das Publikum wissen. Der Wiener überhört das geflissentlich, den Römern gefällt es. In Hamburg und Paris war er schon; zu sehen ist er noch im norwegischen Bergen oder im deutschen Baden-Baden, in Skopje in Mazedonien gibt es sogar noch Restkarten.
Umfassende Werkschau
Warum er da ist, erklärt Cave, der an diesem Abend ebenso gerne plaudert, wie er spielt, vorweg: Manchmal, so sagt er, gehe der Kern, „die Wahrheit hinter seinen Songs“ bei all der Wucht und opulenten Präsenz der Bad Seeds verloren. Jetzt, auf sich alleine gestellt, will er zurück zum Ursprung, zur wahren Idee seiner Musik.
Damit ihm seine Fans dabei auch sicher folgen können, liefert der Meister Erklärungen zu fast jedem Stück – Bedienungsanleitungen für sein oft nicht leicht zu dechiffrierendes Werk, quasi. Und das Werk ist groß. Fast drei Stunden lang nimmt er die Besucher unter freiem Himmel mit auf eine Art Werkschau, die von frühen Stücken bis zu „Wild God“ reicht.
Zu hören gibt es dann unter anderem „O Children“ – in dem Cave den Kummer besingt, seine Kinder nicht vor der grausamen Welt beschützen zu können – ebenso wie den Trennungs-Song „Jesus of the Moon“, „Galleon Ship“ (getextet im Bett mit Blick auf seine schlafende Ehefrau) und „Papa Won’t Leave You, Henry“ (getextet, als er in seiner Zeit in Brasilien seinen Sohn in den Schlaf wiegte). Man merkt rasch: Wer Nick Cave, der zuletzt immer gekonnter die Nähe zu seinen Fans zelebriert, (noch) besser kennenlernen wollte, war an diesem Abend richtig. Nur den „Higgs Bosom Blues“, räumte er selbst ein, müsse man nicht verstehen. „Den versteht keiner.“
"Joy": Ein Höhepunkt
Umso klarer ist dann „Joy“, das sich unaufhaltsam seiner Botschaft entgegenwindet, die letztlich in nur einem Satz steckt: „We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy“. Als er ihn in die römische Nachtluft ruft, hört man, wie es klingt, wenn Tausende Italiener keinen Mucks machen. Es sollte einer der Höhepunkte dieses Abends werden.
Ohne die Bad Seeds ist Nick Cave ein anderer. Noch nahbarer, näher. Seine Fans nehmen die Nähe dankbar an. Cave gibt vor, bei welchem Song richtig gejubelt werden darf („Balcony Man“), bei welchem alle verdammt noch mal den Mund zu halten haben („Mercy Seat“) und wo der Refrain mitgesungen werden soll („Push the Sky Away“). Alle folgen artig.
Im Gegenzug gibt es im Lauf des Abends noch mehr Liebesbekundungen des Künstlers. Für einen „Mann mit Bart“ im Publikum spielt er außertourlich das frühe „Watching Alice“ (aus 1988). Und als beim letzten Lied vor der Zugabe in der Arena Unruhe ausbricht und Fans die Bühne stürmen, schickt Cave die herbeieilenden Securitys kurzerhand nach Hause. „Take the night off. We don’t need you.“
Im Sitzkreis
Dass die Jünger ihrem Propheten bis auf wenige Zentimeter zu Leibe rücken und im Sitzkreis um den Flügel dem nächsten Song lauschen, stört ihn nicht. Oder zumindest lässt er sich nichts anmerken. Nähe ist eben keine Einbahnstraße.
Ist die Übung gelungen? Ja, über weite Strecken. Nach seinem „Wild God“-Tour-Erfolg muss sich Cave an seinem schlimmsten Konkurrenten messen lassen: sich selbst. Zwei Mal, beim dramatischen „Weeping Song“ und bei „Mercy Seat“, kommt man nicht umhin, die Wucht der Seeds doch zu vermissen. Und bei „O Children“ gedenkt man kurz des Gospelchors, der an dieser Stelle früher Aufstellung nahm. Dass Bassist Greenwood von Song zu Song immer mehr aus dem Rampenlicht verschwunden ist und erst bei der Zugabe 30 Sekunden Ruhm hat, passt ins Bild.
Standing Ovations gab es nach „Into my Arms“ jedenfalls auch zum Abschluss des Konzerts noch einmal.
Bleibt nur die Frage, was Nick Cave an Baden-Baden besser gefällt als an Wien.
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