"Ich kämpfe um den Rang der Oper"
Seit 2006 leitet Peter Gelb das riesige Opernhaus am Lincoln Square. Und er ist sich bewusst: Die Herausforderungen an Intendanten, die Zukunft der Kunstform Oper erfolgreich voranzutreiben, werden immer größer. Der KURIER traf Gelb in Wien, wo er die Premiere der Oper "The Tempest" von Thomas Adès besuchte – eine Koproduktion, die 2012 in New York zu sehen war.
KURIER: Wie wichtig sind zeitgenössische Werke wie "The Tempest" für das Opernfach, in dem traditionellerweise alte Stücke dominieren?
Peter Gelb: Opern des 21. Jahrhunderts sind sehr wichtig, um das Repertoire zu erweitern und neues Publikum zu gewinnen. Schon als ich an die MET kam, war das ein Ziel: Jedes Jahr eine neue Oper zu präsentieren. Das machen wir mit Werken von Komponisten wie John Adams, aber auch jetzt mit Thomas Adès. Oper ist ja tatsächlich eine Kunstform, die repertoiremäßig stark von der Vergangenheit dominiert ist. Das halte ich für eine Gefahr.
In welcher Hinsicht?
Auf den Opernhäusern lastet dadurch der Druck, die alten Werke immer wieder zu erneuern, um sie für das Publikum frisch zu halten. Das muss man auch machen. Aber manchmal gehen Theater meiner Meinung nach in diesem Bemühen zu weit. Sie dekonstruieren die Werke, sodass das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht wird. Wenn man neues Publikum gewinnen will – und in New York ist das zentral –, dann muss die Erzählform ganz klar sein. Die Menschen müssen verstehen, was auf der Bühne passiert. Danach suche ich auch die Regisseure aus. Robert Lepage etwa kann das wunderbar.
Er hat an der MET Wagners "Ring" inszeniert, der als teuerste Opernproduktion aller Zeiten gilt. Stimmt es, dass seine Bühnenmaschine schon kaputt ist und dieser "Ring" nie wieder gespielt wird?
Das stimmt nicht. Wir bringen diesen "Ring" zurück. Im Frühjahr 2019 wird er wieder zu sehen sein. Lepage versucht, überhaupt zum ersten Mal in der Aufführungsgeschichte, alles zu zeigen, was Wagner wollte. Und das mit enormem technischen Aufwand. Lepage wird davor an der MET übrigens auch "L’Amour de loin" von Kaija Saariaho inszenieren.
Wird es an der MET weitere Opern von Thomas Adès geben?
Selbstverständlich. Er ist ja eines der genialen Talente. Wir haben schon die nächste Oper bei ihm in Auftrag gegeben, gemeinsam mit den Salzburger Festspielen. Er bringt dort 2016 seine Adaption des Luis-Buñuel-Films "Der Würgeengel" aus dem Jahr 1962 als Uraufführung auf die Bühne, danach übersiedelt die Produktion nach New York. Ich versuche bei all meinen Planungen, eine künstlerische Linie zu halten und auch länger mit Komponisten zusammenzuarbeiten. Und Koproduktionen sind wichtig für die Entwicklung der Werke. Schon Verdi und Puccini haben bei Premieren gesehen, wie das Publikum reagiert und dann Opern auch noch überarbeitet.
Wir haben einander zuletzt in Amsterdam gesehen, bei der Premiere von Alban Bergs "Lulu" in der Regie von William Kentridge. Diese Produktion übersiedelt im Herbst an die MET, mit einer anderen Protagonistin, nämlich Marlis Petersen. Diese Inszenierung stellt optisch auch Herausforderungen an das Publikum. Ist jenes in New York offen genug dafür?
Kentridge hat an der MET schon seine Inszenierung von Schostakowitschs "Die Nase" gezeigt, und die Menschen waren begeistert. Was er jetzt mit "Lulu" macht, ist fantastisch. Er verbindet Kunst und Theater – das ist uns ganz wichtig. Als er "Die Nase" inszenierte, gab es parallel dazu auch eine Ausstellung im MoMA. Bei der Premiere der Saariaho-Oper werden wir auch in der ganzen Stadt ein kleines Festival dazu veranstalten und andere Institutionen einbinden. Ich beneide die Wiener Oper um den Stellenwert, den sie hier hat. Das ist wie mit Los Angeles und der Filmindustrie. Jeder kennt die großen Stars. Auch wenn die MET mit 3800 Plätzen ein riesiges Theater ist, ist sie nur eine von ganz, ganz vielen Kulturinstitutionen. Meine große Aufgabe besteht darin, um den Rang der Oper im kulturellen Leben der Stadt zu kämpfen.
Vor einiger Zeit machte die MET auch Schlagzeilen mit wirtschaftlichen Problemen. Damit steht sie allerdings weltweit nicht alleine da. Wie geht es dem Theater heute?
Ja, diese Probleme haben auch Europa erreicht. Aber Wien geht es sicher besser als anderen europäischen Städten. Ich habe das Gefühl, dass die Unterstützung der Regierung für die Kunstform Oper in Österreich stärker als anderswo ist. In New York ist das System mit privaten Sponsoren und steuerlicher Absetzbarkeit von Spenden ja ganz anders. Es gibt zum Glück viele Philanthropen, die gerne Geld spenden. Es existiert manchmal fast schon ein gesunder Wettbewerb zwischen Sponsoren, wer am meisten Geld, etwa für Universitäten, gibt. Unser Problem in den USA, auch wenn wir ein gutes System haben, besteht darin, dass die Ausgaben so dramatisch wachsen und speziell die Arbeitskosten enorm hoch sind. Deshalb hatten wir zuletzt auch die schwierigen Verhandlungen mit den Gewerkschaften. Wir mussten unbedingt Kosten reduzieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der MET ist das auch gelungen. Es gibt 16 verschiedene Gewerkschaften an der MET. Die großen wie das Orchester und der Chor haben eine siebenprozentige Reduktion akzeptiert. Im Gegenzug habe ich den Gewerkschaften zugesagt, auch in allen anderen Bereichen zu sparen. Wir hatten zuletzt stets ein Defizit, heuer werden wir ein ausgeglichenes Budget schaffen. Wir haben unsere Kosten um mehr als 22 Millionen Dollar reduziert, ohne an künstlerischer Qualität zu verlieren, wie ich finde.
Wie hoch ist das Budget der MET?
Heuer mit den Kürzungen knapp über 300 Millionen Dollar. Nächstes Jahr wird es unter 300 Millionen sein. Das war zuletzt 2008 so.
Stimmt es, dass weniger als ein Prozent davon öffentliche Gelder sind?
Ja. Und etwa 50 Prozent nehmen wir selbst ein. Allein mit Opernübertragungen in Kinos machen wir jedes Jahr 17 bis 18 Millionen Dollar Gewinn. Wir erreichen Menschen in 70 Ländern. Vergangene Woche haben wir seit Beginn vor neun Jahren das 18-Millionste Ticket verkauft. Österreich und Deutschland bilden übrigens den zweitgrößten Markt – nach den USA. Bei jeder Übertragung schauen 30.000 Menschen im deutschen Sprachraum zu.
Zuletzt gab es auch Kritik, dass Kinoübertragungen die Art des Singens und des Spiels verändern, weil die Sänger für die Kamera agieren und nicht mehr für das Publikum im Theater. Sehen Sie diese Gefahr?
Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Sänger verstehen durch die Liveübertragungen, dass sie immer im Bild sein könnten, auch wenn sie nicht singen. Sie müssen von Anfang bis zum Ende in ihrer Rolle sein. Die alten Operngesten werden dadurch immer mehr aufhören. Die sind nicht gut für die Besucher im Opernhaus und auch nicht für jene im Kino.
Was halten Sie von Livestreaming? Herbert Kloiber, mit dem Sie in den Kinos zusammenarbeiten, ist überzeugt, dass Oper auch das Gemeinschaftserlebnis braucht.
Wir erreichen mit unseren Übertragungen eine leidenschaftliche Community. Es gibt in den USA sogar Busse, die Menschen aus Altersheimen zu den Übertragungen führen. Opernfans sind ja genauso fanatisch wie Sportfans. Und alles, was die Verbindung zwischen den Theatern und den Besuchern fördert, kann nur gut sein.
Wie viele Jahre geben Sie der Oper noch in der Form, wie sie heute existiert?
Ich glaube, wichtige Theater wie die Staatsoper oder auch die MET werden selbstverständlich noch lange fortbestehen. Dazu kommen immer mehr kleinere Stätten, die auch flexibler sind. Ich sehe die Kunstform in keiner akuten Gefahr. Aber die Chefs der Opernkompagnien müssen aufpassen, dass es zu keiner solchen kommt. Wir müssen das Genre immer wieder künstlerisch erneuern und neue Wege der Programmierung finden.Wenn es genügend Publikum gibt, wird man immer Wege finden, Oper zu finanzieren. Der Schlüssel ist der richtige künstlerische Weg für neues Publikum. Und da werden die Herausforderungen größer, auch wegen der mangelnden klassischen Ausbildung in den Schulen.
ZUR PERSON: Peter Gelb
Er wurde 1953 geboren, sein Vater war einer der Chefs der New York Times. Gelb war Manager des Boston Symphony Orchestra und von Vladimir Horowitz, er produzierte Klassik-TV-Übertragungen und war Präsident von Sony Classical Records. Seit 2006 ist er General Manager der MET. Ioan Holender ist für ihn als Berater für Stimmen und als Talente-Scout tätig. Mit Herbert Kloiber entwickelte er die HD-Liveübertragungen.
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