ORF-Doku am Stadtrand: So arm ist Simmering

Der zuckerkranke Herr Peter in „Simmeringer Hauptstraße – In der Vorstadt“, 22.15 Uhr, ORF2
Die wichtigste Straße des elften Wiener Gemeindebezirks heißt wie er selbst und führt zum Krematorium. Die Simmeringer Hauptstraße erstreckt sich über sechs Kilometer. Sie führt am Wiener Zentralfriedhof vorbei und an einigen von Wiens ärmsten Gegenden. ORF-Dokumentarist Ed Moschitz hat sich den Bezirk näher angesehen und hat dabei zutage gefördert, wie schlecht es unserer Gesellschaft jetzt schon geht, während der Rest schwierige Zeiten heraufdräuen sieht.
Zugegeben: Moschitz hat einen sehr spezifischen Ausschnitt gewählt. Zielsicher trifft der Blick der Kamera Wiener Originale, die man sonst nur aus den „Alltagsgeschichten“ der verstorbenen Elizabeth T. Spira kennt. Krumme Zähne, Bierdosen, flotte Sprüche, die von der eigenen Misere ablenken sollen: Simmering ist übervoll von diesen Charakteren. Da ist etwa der ehemalige Totengräber Peter, dem die Sucht nach Duplo-Schokoriegeln zum Verhängnis wurde. Im Rollstuhl sitzt der schwer Zuckerkranke im Hauseingang und erzählt bereitwillig von seinem Leben. Geschickt hält Moschitz das Gespräch am Laufen, ohne den Mann vorzuführen. Der ist ohnehin gewitzt und versteht nicht, warum der ORF-Mann sich angesichts der „längsten Praline der Welt“ nicht selbst um die Gesundheit gebracht hat.
Die Zuwanderer...
Wie üblich wird hier auch viel über die Zuwanderer geschimpft, die schon längst überhandnehmen würden. Ein unerwarteter Kritiker der Migration ist ein türkischer Schnapsladenbetreiber, der mit schwerem Akzent ein Loblied auf die österreichische Lebensweise singt: Wer bei ihm „Salam Aleikum“ sagt, hat schon verloren. Bei ihm heißt das „Grüß Gott“. Und wer sich nicht ordentlich benehme, solle außer Landes gebracht werden, im Fall des Falles ihn selbst eingeschlossen. Glückliches Österreich, das solche Loyalitäten kennt. (Das gläubige Muslime eh keine Spirituosen kaufen, lässt er nonchalant unter den Tisch fallen.)
Stichwort Schnaps: Wer nach dem Elend sucht, findet es in Simmering im Tschocherl ums Eck: Da liegt der Gast mit dem Gesicht auf der Tischplatte, um in einem luziden Moment zu bekunden, dass man „nicht einmal im Krieg“ die Wirtshäuser zugesperrt habe, während Corona aber schon. Die „historisch schlechteste Regierung“ assistiert ein zweiter Tschocherl-Gast fachkundig. Der ehrenamtliche Politologe befindet sich in Frühpension, sein wertvollster Besitz scheint sein stattlicher Bauch zu sein („den kann mir niemand nehmen“).
Starke Frauen
So teigig die Männer teilweise daherkommen, so kräftig sind die Simmeringer Frauen. Unerwartet erzählt eine Bewohnerin eines riesigen Wohnbaus, Hasenleiten, wie sie einen renitenten Nachbarn über die Stiegen hinuntergewatscht habe. Aber erst, nachdem dessen Frau und Kinder in die Wohnung verschwunden waren. Sie komme aus der Gastronomie, da müsse man sich wehren, erläutert die 74-Jährige dem bass erstaunten Moschitz: „Ich hab drei Schwerverletzte ghobt“, gesteht sie stolz grinsend. Um gleich darauf zu versichern, sich dafür wirklich zu genieren.
Die zeitgenössische Entsprechung ist die junge Tschocherl-Kellnerin, die mit viel Charme und fesch hergerichtet dem Anlassig-Sein mancher Herrschaften durchaus etwas abgewinnen kann. Schließlich wirke sich das auch aufs Trinkgeld aus. Einen gefestigten Charakter brauche man trotzdem (oder die starke Rückhand einer 74-jährigen Veteranin).
Richtig trist wird es am Fetzenmarkt, wo sich die Menschen um 50 Cent gegenseitig Sachen verkaufen. Ein Mann holt Gewand aus dem Müll, um es – gewaschen – zu Geld zu machen. Die Zeiten sind schlecht, will uns der Film sagen. Für manche geht es nicht weiter runter.
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