Arbeiterkammer-Doku im ORF: "Bitte Im B-Bereich Platz nehmen"

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ORF 2 zeigte die Doku "Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien". Der Titel klingt nach Propaganda, dabei versucht der Film einen bewusst neutralen Blick.

* Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends*

 

Er mache „Politik für die Vielen, nicht für die Wenigen“, twitterte Andreas Babler diesen Sommer. Die Formulierung gehört mittlerweile zum Standardrepertoire des SPÖ-Chefs.

Aber auch seine Vorgängerin, Pamela Rendi-Wagner, sagte am 1. Mai – kurz vor ihrer Absetzung: „Wir sind die vielen, wir sind stärker und wir sind unschlagbar!“

Der Rest ist Geschichte. Der Slogan wurde jedenfalls vom britischen Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn abgekupfert, der 2017 formuliert hatte: "For the Many, not the Few."

 

Direct Cinema

Am Sonntagabend fiel eine Doku im späten Abendprogramm von ORF2 ins Auge, die sich „Für die Vielen“ nennt. Es ging um die Arbeiterkammer Wien. Auf den ersten Blick fragten sich wohl viele unter den Vielen: Ein Propagandafilm aus der roten Reichshälfte der Sozialpartnerschaft? Und das im ORF?

Ein Blick auf den Regisseur sorgt aber für rasche Entwarnung. Constantin Wulff ("In die Welt") ist Spezialist für Kino-Dokumentationen im „Direct Cinema“-Stil. Sein Porträt der AK, das zwischen September 2019 und Oktober 2021 gedreht wurde und 2022 in den Kinos lief, orientiert sich an den Institutionenporträts eines Frederick Wiseman. Der große US-Dokumentarist wird auch im Abspann gewürdigt.

Es sprechen keine AK-Granden direkt in die Kamera, es werden keine Interviews mit Beobachtern und Wegbegleitern zum 100. Geburtstag der Arbeiterkammer geführt. Wulff bleibt auch in diesem Film reiner Beobachter und lässt Bild und Originalton ohne jeglichen Kommentar aufs Publikum wirken.

Der Film zeigt, mit welchen Anliegen und Problemen die Menschen bei er AK vorstellig werden. „Bitte Im B-Bereich Platz nehmen“, wird ihnen dann freundlich beschieden. Oder im C-Bereich.

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Beratung mit Gebärdensprache

Viele Sitzungen

Menschen unterschiedlicher Herkunft suchen Rechtsberatung und berichten in den Beratungsgesprächen Empörendes aus der Arbeitswelt: Von nicht ausgezahlten Löhnen, verschärften Arbeitsbedingungen, Kündigungen per SMS oder während der Karenz.

Wenn man als Zuschauer diese erste Hürde genommen hat, kann man auch an (sehr vielen) Planungssitzungen beobachtend teilnehmen. Da wird zum Beispiel ein Image-Video zur Kampagne „100 Jahre AK“ besprochen und vorgespielt. Ein jüngeres Publikum will man damit ansprechen. „Ich bin die Gerechtigkeit“, sagt die kämpferische Hauptdarstellerin in futuristischer Umgebung. Und: „Und ich bin gekommen, um zu bleiben.“

AK-Präsidentin Renate Anderl wird von der Kamera genauestens beobachtet, wie sie auf das Werbevideo reagiert. Danach zeigt sie sich begeistert über den aus ihrer Sicht zeitgemäßen Spot und sagt: „Viele werden sich wundern, dass am Ende AK steht.“

 

Dokumentaristen-Gold

Die Selbstironie der AK-Chefin ist natürlich Dokumentaristen-Gold für Wulff. Ebenso der Beginn der Corona-Pandemie mitten in den Dreharbeiten. Das gibt dem Regisseur die Möglichkeit, eine dramaturgischen Wende in den zweistündigen Film einzubauen.

Man taucht noch einmal ein in die Zeit, als noch nicht ganz klar war, was auf die Gesellschaft zukommen wird. Zunächst werden nur Täfelchen aufgestellt, dass bei der AK keine Hände mehr geschüttelt werden. In einer Sitzung vergleicht eine Skeptikerin Corona mit der Grippe. Doch Anderl besteht darauf, dass drastische Schutzmaßnahmen nötig sind.

➤ Mehr dazu: "Projekt Ballhausplatz": Kurz-Film mit Längen

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Hygiene in der Pandemie

 

Leere Gänge

Bald sieht man einsame Angestellte im Büro, Videokonferenzen – und auch der B-Bereich ist leer. Bald tragen alle Mund-Nasen-Schutz, irgendwann dann FFP2-Masken. Was auch zum Schluss des Films führt. Betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den österreichischen „Maskenskandal“ quasi live erlebten, berichten über die Arbeitsbedingungen bei der Hygiene Austria.

Der Zufall hat dem Regisseur also vergleichsweise spannendes Material beschafft, mit dem sich dramaturgisch arbeiten lässt. Aber der Film klingt mit dem Alltag aus. Wulff zeigt Straßenszenen. „Die Vielen“ auf dem Weg in die Arbeit oder aus der Arbeit.

Ein bisschen Tagespolitik darf dazwischen auch sein. In einer Szene geht es mitten hinein in eine Parlamentssitzung. Dort spielt sich eine (teilweise amüsant geführte) Debatte zwischen Arbeiterkammer-Ökonom Markus Marterbauer und Wirtschaftskammer-Generalsekretär Karlheinz Kopf ab.

Bleibt die Frage, ob – in Zeiten des politischen Gegenfilms – andere Institutionen nun auch ins Kino wollen. Kommt dann „Wirtschaftskammer – der Film“? Provoziert die FPÖ mit einem Bild-Stakkato in Spielfilmlänge? Oder kommt gar die Grünen-Romanze „Ins Klimaglück“?


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