Deutschlands Oscar-Hoffnung: Keine Kindheit in Bullerbü

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Eine Sensation in Cannes und deutsche Hoffnung auf einen Oscar: „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski erzählt von vier Frauengenerationen auf einem Vierkanthof in der Altmark, „der Wiege Preußens“.

Es ist gar nicht so einfach, die Geschichte von „In die Sonne schauen“ zu erzählen. Vielleicht deswegen, weil es keine einfache Geschichte zu erzählen gibt. Mascha Schilinski zitiert den Franzosen Robert Bresson, wenn es um die Wahrnehmung ihres Filmes geht: „Ich möchte lieber, dass die Menschen einen Film fühlen, bevor sie ihn verstehen.“

Als „In die Sonne schauen“ in Cannes seine Premiere feierte, entstand ein regelrechter Hype. Das Filmfestival hatte kaum begonnen, schon wurde der zweite Spielfilm von Mascha Schilinski als Entdeckung des Jahres durch die Medien gejagt. „In die Sonne schauen“ wurde schließlich mit dem Preis der Jury belohnt und zuletzt von Deutschland als diesjähriger Oscarkandidat eingereicht.

Angestarrt

Es war ein altes Schwarz-Weiß-Foto mit drei Frauen darauf, die sie angestarrt und zu ihrem Film inspiriert hätten, erzählt die deutsche Filmemacherin im KURIER-Gespräch. Schilinski hatte sich gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Luise Peter auf einen leer stehenden Vierkanthof in der Altmark zurückgezogen, um an einem Drehbuch zu arbeiten. Das Gebäude stand seit 50 Jahren leer, seine Räume sahen genauso aus, wie sie verlassen worden waren.

Und dann lag da dieses alte Foto: „Drei Frauen um 1920 standen im Hof und guckten direkt in die Kamera“, erinnert sich Schilinski: „Das war ein sehr ungewöhnlicher Schnappschuss für diese Zeit. Sie haben uns direkt angeschaut. Wir hatten das Gefühl, dass dieser Blick zu uns gesprochen hat, weil wir an derselben Stelle standen wie diese Frauen damals. Wir haben uns gefragt, was hier wohl schon alles passiert ist.“

The 78th Cannes Film Festival - Press conference for the film "Sound of Falling" in competition

Deutsche Regisseurin Mascha Schilinski: Oscar-Hoffnung mit "In die Sonne schauen". 

Um das herauszufinden, begann eine Recherche über die Altmark – „die Wiege Preußens“, wie Schilinski ausführt. Die Landschaft im Norden von Sachsen-Anhalt „war geschichtsträchtig wichtig, ist dann aber in Vergessenheit geraten. Für uns war es spannend, dass die Gebiete auch in der ehemaligen DDR lagen und wirklich hundert Jahre deutsche Geschichte abbilden.“

„In die Sonne schauen“ erzählt über vier Frauengenerationen hinweg vom Leben und Sterben auf dem Vierkanthof: Von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart.

Unter den häuslichen Ritualen, die Schilinski mit schwebender Kamera in grobkörnigen, geisterhaften Bildern festhält, lauern subkutan die Traumata erlittener Gewalt. Gleich zu Beginn beispielsweise sitzt eine bäuerliche Großfamilie im Jahr 1910 um den Tisch. Schweigend löffelt sie ihre Suppe, als plötzlich die Frau des Hauses – eindrucksvoll gespielt von der österreichischen Schauspielerin Susanne Wuest – zu würgen beginnt: „Mutters Magen macht, was er will“, kommentiert eine Kinderstimme aus dem Off. „Aber alle tun, als würden sie es nicht hören.“ Der Magen revoltiert gegen die unterdrückte Trauer über ihre früh verstorbenen Kinder, die die Mutter zu Grabe tragen musste. Um zu verhindern, dass ihr ältester Sohn in den Krieg eingezogen wird, stößt sie ihn – gemeinsam mit ihrem Mann – vom Heuboden.

Dem schwer verletzten Burschen muss ein Bein abgenommen werden. „Arbeitsunfall“, lautet die Diagnose. Das Bein ist verloren, tut aber unerträglich weh. Das seien Phantomschmerzen, wird den jüngeren Geschwistern erklärt, die sich wundern: „Wie kann etwas wehtun, was gar nicht mehr da ist?“

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Familiengeschichte aus weiblicher Perspektive: "In die Sonne schauen".

Doch genau dafür interessiert sich Mascha Schilinski: „Wir sind der Frage nachgegangen, was durch die Zeiten hindurch in uns weiterlebt. Was haben sich für Körpererinnerungen in uns eingespeist, was wird über Generationen weitergegeben, und was prägt uns, das vor unserer Geburt geschehen ist?“

Zwangssterilisation

Schnell war klar, dass „sich der Stoff gegen jeden Versuch einer Handlung wehrt“. Stattdessen wollte Schilinski „radikal in die Subjektivitäten der vier Mädchen eintauchen“, deren Identitäten über Generationen hinweg von patriarchalen Strukturen bestimmt wurden. Bei ihren Nachforschungen stieß sie auf Bücher mit Kindheitserinnerungen an die Altmark, die sich lasen wie im Plauderton verfasste „Bullerbü-artige Erinnerungen an das verlorene Paradies“. Mittendrin aber fanden sich verstörende Sätze wie: „Die Magd musste erst dazu gemacht werden, dass sie für die Knechte ungefährlich war.“

Dieser Hinweis auf eine Zwangssterilisation öffnete „Geheimnisse und Leerstellen, die wir mithilfe der Figuren fast halluzinativ versuchten, zu ergründen, nachdem wir mit der Recherche an einem Endpunkt anlangten“, sagt die Filmemacherin: „Es gibt so spannende Geschichten, die nicht erzählt sind, weil Frauen so oft am Rande der Geschichte stehen.“

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