Netrebko und die Ritter der Erdnuss

"So viele Polizisten haben wir in ganz Zürich nicht", sagt die Dame aus der Schweiz, die Alexander Pereiras exklusiver Einladung zum Lunch für Unterstützer der Mailänder Scala gerne gefolgt ist. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Gelände rund um das berühmteste Opernhaus schon großräumig abgesperrt.
Mehr als 700 Sicherheitskräfte waren bei der traditionellen Saisoneröffnung am Tag des Mailänder Stadtheiligen Sant’ Ambrogio im Einsatz, zusätzlich wurden sogar Scharfschützen rund um das Theater postiert. Besucher der Aufführung wurden von Pereira, dem österreichischen Intendanten des Hauses, gebeten, bereits eine Stunde vor Beginn dort zu sein, weil es bei den Eingängen Securitychecks mit Metalldetektoren gab – in gefährlichen Zeiten wie diesen wohl nötige Maßnahmen.
Fanatismus
Im Theater selbst, das von vielen honorigen Gästen wie etwa Ministerpräsident Matteo Renzi besucht wurde, gab man nach der traditionellerweise bei der Inaugurazione gespielten italienischen Hymne ein Werk, das viel mit Nationalismus, Religionsfanatismus, Gewalt zu tun hat – Giuseppe Verdis "Giovanna d’Arco". Diese Oper war einst an der Scala uraufgeführt worden, war dort jedoch seit 150 Jahren nicht mehr zu hören gewesen.

Pereira und sein Musikdirektor Riccardo Chailly pokerten hoch, indem sie die Rarität für diesen Anlass, bei dem die teuersten Tickets mehr als 2000 Euro kosten, ansetzten. Und sie gewannen. Der Jubel des Publikums war enorm. Matteo Renzi applaudierte überhaupt am längsten.
"Giovanna d’Arco", Verdis siebente Oper, behandelt die Geschichte der heiligen Johanna von Orléans, die hier nicht auf dem Scheiterhaufen endet, sondern im Kampf fällt. Musikalisch gibt es traumhaft schöne Momente, berührende Arien und Duette, große Chorpassagen. "Wenn man genau hinhört, erkennt man schon ,Trovatore‘, ,Traviata‘, ,Don Carlo‘ und vieles mehr", sagt Pereira richtigermaßen. "Giovanna d’Arco", vom Intendanten schon in seinen Salzburger Jahren 2013 konzertant angesetzt, ist ein Rohdiamant, dramaturgisch aber nicht so ausgereift wie spätere Werke.
Bilderflut
Vor allem das Libretto von Temistocle Solera, das nur im Ansatz mit Schiller zu tun hat, ist recht wirr in seinen Sprüngen. Man wird das Gefühl nicht los, dass auch die Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier nicht allzu viel damit anzufangen wissen. Die beiden sind zweifellos Profis und können eine Oper gut bebildern – diesfalls machen sie es mit Referenzen an die Kunstgeschichte. Man sieht Bilder von Paolo Uccello, die in ihre Einzelteile zerlegt werden. Die Teufel am Ende des zweiten Aktes stammen offenkundig von Hieronymus Bosch. Die Kathedrale von Reims wird durchdekliniert. Zwischendurch gibt es Einspielungen erotischer Videos – zur Darstellung all dessen, was sich im Kopf der radikalisierten Giovanna abspielt. König Carlo VII. wiederum sieht aus wie die goldene Statue der Jeanne d’Arc vor dem Louvre , vor der Marine Le Pen alljährlich am 1. Mai nationalistische Reden schwingt.
Im Detail haben Leiser/Caurier aber nicht den Mut, sich auf den Wandel des unschuldigen Kindes zur Kamikaze-Frau einzulassen, sondern retten sich in Ironie. Die Kämpfer wirken, als wären sie von Monty Python’s "Ritter der Kokosnuss" inspiriert, haben aber nicht annähernd deren humoristische Kraft, sondern sind bestenfalls Ritter der Erdnuss. Insgesamt also Behübschung statt Analyse.
In diesem Umfeld müssen sich die Sänger, wie in einem Strindberg’schen Kammerspiel auf sich gestellt, behaupten – es gelingt ihnen fabelhaft. Anna Netrebko ist eine ausdrucksstarke, enorm präsente, dramatische, dann lyrische, grandios timbrierte, stets berührende Giovanna. Ein weiteres Meisterstück der Ausnahmekünstlerin. Francesco Meli als König Carlo VII. ist ein Idealfall eines Spinto-Tenors, mit Italianità und traumhafter Phrasierung. Devid Cecconi sprang als Giovannas Vater Giacomo ohne Bühnenprobe für Carlos Alvarez ein und hielt sich famos. Dmitry Beloselskiy ist ein exzellenter Bass, hat jedoch als Talbot kaum etwas zu tun. Der Chor singt mitreißend.
Chailly setzt mit dem farbenprächtig und präzise spielenden Orchester auf Tempo und Dramatik und schafft die Rehabilitierung einer fast vergessenen Oper.
Im kommenden Jahr, bestätigt Pereira dem KURIER, steht Puccinis "Butterfly" zur Eröffnung auf dem Programm. In jeder Hinsicht die Antithese zu Jeanne d’Arc.
KURIER-Wertung:
Fazit: Erfolg mit einem Rohdiamanten
Das Werk Giuseppe Verdis „Giovanna d’Arco“, 1845 an der Scala uraufgeführt, war seit 150 Jahren nicht mehr an diesem Haus zu hören. Die Oper ist ein Rohdiamant mit schönen Passagen, aber nicht Verdis bestes Werk. Das liegt auch (und vor allem) am Libretto von Temistocle Solera.
Die Sänger Anna Netrebko und Francesco Meli, gleichermaßen Krieger wie Liebespaar, brillieren. Devid Cecconi sprang für Carlos Alvarez ein und hielt sich gut.
Der Dirigent Riccardo Chailly setzt auf Tempo und Dramatik.
Die Regie Moshe Leiser und Patrice Caurier pendeln zwischen Bebilderung, Verkitschung, Ironie.
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