Es ist der Spürsinn für Absurditäten, der die Arbeit von Anna Jermolaewa so besonders macht: Die Menschen, Orte und Dinge, die die in St. Petersburg geborene Künstlerin vorstellt, erzählen allesamt politische Geschichten. Diese triefen vor Witz und vor Widersprüchen und sind – als Videos, Fotos, Objekte oder Rauminstallation präsentiert – zugänglicher als so manch gelehrte Analyse. Denn Jermolaewa holt ihre Werke direkt aus dem Leben – oft ihrem eigenen – hervor.
Im Linzer Schlossmuseum, wo noch bis 5. März eine Werkschau der Künstlerin zu sehen ist, hängen etwa geritzte Röntgenfotos, die in der Sowjetunion zu Schallplatten umfunktioniert wurden, um „verbotene“ Musik hören zu können, in einem Leuchtkasten.
Das Schulzeugnis, in dem ein Direktor Jermolaewa 1988 „Züge des Egoismus“ bescheinigte und bemängelte, sie „neige zur Anmaßung im Gespräch mit Älteren“, ist mit dem Profil einer Dating-Website aus dem Jahr 2012 kombiniert. „Mit etwas mehr Anpassungsfähigkeit würden Sie Ihre Chancen, einem Mann zu gefallen, noch erhöhen“, heißt es darin ernsthaft.
Das titelgebende Werk der Schau, „Number Two“, zitiert dazu ein Experiment des Psychologen Solomon Asch, das zeigen sollte, wie der Konformitätsdruck Menschen dazu bringt, Dinge zu leugnen, die sie selbst mit eigenen Augen sehen.
Doch der Begriff „Anpassung“ kommt in Jermolaewas Vokabular eher nicht vor. Als Mitbegründerin der ersten Oppositionspartei und Mitherausgeberin einer regimekritischen Zeitung musste sie 1989 aus der Sowjetunion fliehen, in Österreich erhielt sie politisches Asyl. Sie studierte Kunstgeschichte, Malerei und Grafik und konnte sich mit ihrem eigenen Werk wie auch als Lehrende – in Karlsruhe, Kassel und seit 2018 an der Kunstuniversität Linz – nachhaltig etablieren.
Das Leben in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion blieb ein Thema in Jermolaewas Arbeit, wenngleich – auch das ist in der Linzer Überblicksschau abzulesen – auch andere Dinge im Werk der Künstlerin wichtig sind. Dazu gehört ein humorvoller Zugang zur Sexualität – zu sehen etwa im Video „On/Off“, in dem ein erigierter Penis einen Lichtschalter ständig ein- und wieder ausschaltet.
Vielleicht ist aber auch das nur eine weitere Methode, um Männer vom Podest zu holen und Autoritäten ins Lächerliche zu ziehen. Die Frage, wie weit die Kunst damit kommt, hatte sich Jermolaewa zuletzt oft gestellt, wie sie bei ihrer Nominierung zu Österreichs Biennale-Vertreterin im Jänner verriet: Die Notwendigkeit, angesichts der Eskalation in der Ukraine direkt zu helfen, habe sie zweifeln lassen. „Nun sehe ich aber einen Weg, wie sich Kunst und direktes Handeln produktiv ergänzen können“, erklärte sie.
Just Jermolaewas jüngstes Werk „Singing Revolution“, dem in Linz ein eigener Raum gewidmet ist, bestärkt diese Sicht. In drei Videos singen Chöre aus Estland, Lettland und Litauen jene Lieder, mit denen in den Jahren 1988 bis 1991 Unabhängigkeit gefordert wurde. Es ist eine simple wie berührende Erinnerung daran, welche Rolle das Schöne spielt – und dass Menschen in Gemeinschaft nicht unterzukriegen sind.
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