Israel: Ein Monster nach dem anderen

„Wird ein Angriff von außen den jüdischen Staat retten, bevor innere Unruhen ihn zerstören?“, fragte sich Saul Friedländer besorgt. Was in Israel seit Antritt der ultrarechts-religiösen Regierung vor sich ging, ließ dem renommierten Historiker und Holocaust-Forscher keine Ruhe mehr. Mit seinen 91 Jahren zu alt, um noch einmal in seine Heimat zu reisen, setzte er sich in seinem Zweitdomizil in Los Angeles hin und wollte zumindest beobachten, beschreiben und analysieren.
Doch als Friedländer im Jänner sein Tagebuch „Blick in den Abgrund“ zu schreiben beginnt, da kann er nicht ahnen, dass Israel kaum neun Monate später den schlimmsten Angriff in der Geschichte des Landes erleiden wird. Und auch wenn er seine Aufzeichnungen im Juli – also noch vor dem verheerenden Terrorzug der Hamas – beendet, so finden sich in seinen spannenden, oft sehr zornigen und luziden Beschreibungen geradezu prophetische Vorausahnungen, welche Katastrophe noch kommen könnte. „Das Land steuert möglicherweise auf einen größeren Krieg zu“, schreibt Friedländer im Mai, „und die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, ihre Luftschutzbunker zu bestücken und vorzubereiten.“
„Politische Krankheit“
Da hatten sich die Spannungen im Westjordanland schon wieder extrem verschärft – nach den gewalttätigen Übergriffen jüdischer Siedler auf Palästinenser und den wiederum darauf folgenden Attacken palästinensischer Terroristen. „Ich weiß nicht, ob der Konflikt mit den Palästinensern noch eine friedliche Lösung finden kann“, sinniert er. Immer wieder erwähnt Friedländer sie – die „palästinensische Frage: Sie ist der Kern unserer politischen Krankheit, unserer langjährigen sozialen Malaise und unseres ständigen Rückgriffs auf Gewalt.“ Ohne eine politische Lösung, ohne einen gleichberechtigten Staat für die Palästinenser, ist Friedländer überzeugt, werde auch Israel dauerhaft Schaden nehmen.
Als 15-Jähriger, der im Holocaust seine Eltern verloren und selbst nur versteckt in einem katholischen Kloster in Frankreich überlebt hatte, kam Saul Friedländer ins junge Israel. Wandelte sich vom glühenden Zionisten zu einem um Ausgleich bemühten Wissenschafter und Kenner der israelischen Politik. Und so entsetzte es den wortgewandten Historiker zutiefst, als er realisierte, „dass die Koalition, die Benjamin Netanyahu gebildet hatte, ein Monster war“. Ein Monster, das „sein liberales und demokratisches Israel“ mit der geplanten Justizreform zu verschlingen drohte.
Tausende, Zehntausende, am Ende waren es oft mehr als Hunderttausende Israelis, die gegen die Reform auf die Straße gingen. Offiziere der Luftwaffe wollten sich aus Protest nicht mehr zum Dienst melden, massive Streiks – immer tiefer ging der Riss zwischen einer Regierung, die sich die unabhängige Justiz zum Untertan machen wollte, und ihren Gegnern. Mit seinem Tagebuch wollte Saul Friedländer dazu beitragen „das Monster zu bändigen“.
Die tiefe Kluft, die sich bis zum Herbst durch Israel zog, hat das Land geschwächt. Ein gravierendes Sicherheitsproblem, das nicht zuletzt auch ein anderes Monster auf den Plan rief: die Terroristen der Hamas.

Saul Friedländer: „Blick in den Abgrund“, C. H. Beck, 237 Seiten, 24 Euro
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