"Iolanta", die letzte Oper von Piotr I. Tschaikowski (das Libretto stammt von seinem Bruder Modest I.), erzählt die Geschichte der blinden Königstochter, die weder weiß, welchen Job ihr Vater genau ausübt, noch dass sie blind ist oder wofür es Augen überhaupt gibt. Sie glaubt, nur zum Weinen. Ihr Vater hat für sie eine Traumwelt erschaffen und versucht mit aller Gewalt zu verhindern, dass sie die Wahrheit erfährt. Gut gemeint also, aber trotzdem ziemlich übergriffig und egozentrisch.
Wer von Geburt an blind ist, so insinuiert dieses Märchen, kommt mit seiner Welt vielleicht nicht so übel zurecht und wünscht sich gar nicht, zu den Sehenden zu gehören. Erst als ein Ritter namens Vaudémont auftaucht und Iolanta über ihre Unkenntnis in Kenntnis setzt, will sie geheilt werden. Das gelingt dank eines maurischen Arztes, Ibn-Hakia genannt, bravourös - ob das allerdings grundsätzlich als Erfolg gewertet werden kann, ist nicht so klar. Iolanta kennt sich in der Welt des Lichts zumindest für ein paar Opernminuten nicht aus, dann ist eh alles wieder gut. Zumindest bei Tschaikowski, aber nicht in dieser Deutung: Regisseur Evgeny Titov zeigt im Schlussbild, dass die reale Welt, wie man sie heutzutage wahrnimmt, nicht ganz so super ist. Wenn man so will, ist diese Neuproduktion also ein heftiger Kommentar zur Zeit, in der viele lieber wegschauen, als sich mit den tragischen Entwicklungen und den Bildern der Zerstörung auseinanderzusetzen. Und sie passt auch einigermaßen zu Österreich, das ja berühmt ist fürs Wegschauen oder Unter-den-Teppich-Kehren.
Diese finale Wendung ist das Plakativste an der Inszenierung, der Rest zum Glück verrätselter und ein echter Gewinn für das Staatsopern-Repertoire. Titov versteht sich fabelhaft aufs Kreieren von Bildern, von üppigen, barocken Tableux - dazu passt auch, dass Sonya Yoncheva, die Protagonistin des Abends, zu Beginn minutenlang so gut wie nackt singen muss, umgeben von Blumenmädchen, die ihr, der Blinden, das Leben schöner machen sollen. Wieso sollte nackte Haut sie stören, wenn sie ja nicht weiß, wer sie wie sieht? Titov bleibt jedenfalls auch in diesem Bild, das leicht allzu vordergründig und spekulativ werden könnte, total diskret und nobel. Und er kann dazu mit dem sehr guten Damenchor erstklassig umgehen. Mit seinem ästhetischen Anspruch und seiner Gesamtkunstwerk-Attitüde erinnert er an visuell beeindruckende Arbeiten etwa von Jan Lauwers.
Und er hat die Popgeschichte so sehr intus, dass er unbeschwert daraus zitieren kann und dabei nie abgleitet. Eine Figur, Bertrand (solide gesungen von Simonas Strazdas), sieht aus wie Riff Raff aus der "Rocky Horror Show" - der Blumengarten der Iolanta ist ja in der Tat eine Art Horrorhaus, in das sich ihr späterer Liebhaber verirrt. Es gibt Bodybuilder-Statisten wie in B-Movies, der maurische Arzt erinnert an Dr. Mabuse.
Man schaut gerne zu, selbst wenn Riff Raff die blinde Prinzessin zwangsimpft und glaubt dabei nicht an einen verspäteten Corona-Kommentar, sondern primär an Unterdrückung in einer Gefängnissituation. In keiner Phase stellt man sich die ausgelutschte Opernfrage, ob diese Regie nun konservativ oder modern sei, sondern ist einfach überzeugt von der Qualität. In diesem Sommer wird Titov bei den Salzburger Festspielen "Die drei Schwestern" von Peter Eötvös inszenieren - und man versteht, warum der Mann, der enorm musikalisch agiert und offenkundig viel von Schauspiel und Personenführung versteht, gerade so gefragt ist.
Zum Erfolg dieser Produktion trägt auch das Dirigat von Tugan Sokhiev bei, der auf eine ganz klassische Lesart der wunderschönen Tschaikowski-Partitur setzt, auf Klangkultur und auf eine packende Erzählweise. Das Staatsopernorchester spielt phänomenal (Extralob für die Holzbläser). Wenn man der musikalischen Gestaltung einen Vorwurf machen kann, dann höchstens den, dass es in einigen Momenten so laut ist, dass man sich fragt, ob das nun eine Oper über eine Blinde oder eine für Schwerhörige ist.
Ein Vorteil an diesem Kraftakt besteht immerhin darin, dass man den Tenor, Dmytro Popov als Vaudémont, nicht immer gut hört. Er müht sich sehr durch diese Partie, leider in allen Lagen. Boris Pinkhasovich ist ein famoser Robert mit viel Ausdruck und Kraft, Ivo Stanchev ein König René, der auch an seine Grenzen stößt, Attila Mokus ein guter Ibn-Hakia, Daniel Jenz ein honorabler Almeriak, Monika Bohinec eine enorm präsente Marta, Maria Nazarova eine überzeugende Brigitta und Daria Sushkova eine ebensolche Laura.
Sonya Yoncheva spielt aufopfernd die Iolanta und erfreut auch sängerisch - mit schön timbriertem Sopran, guter Höhe, feinen lyrischen Passsagen und Kraft in den dramatischen, wenngleich sich in letztere durchaus einige schrille Töne schwindeln.
Im Publikum applaudierte Anna Netrebko - sie hatte diese Partie 2011 in Salzburg phänomenal gesungen.
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