Das Jahr 2020 war ein gutes Jahr für Vanessa Kirby, trotz der weltweiten Pandemie. Gleich zwei Filme, in denen sie die Hauptrolle spielt, feierten Rücken an Rücken ihre Premiere in Venedig, das als einziges A-Filmfestival nach Ausbruch von COVID-19 als Live-Ereignis stattfand und sich heute noch anfühlt wie ein Wunder.
Beide Filme – sowohl Mona Vasolds Historiendrama über eine Frauenliebe in „The World to Come“ als auch Kornél Mundruczós „Pieces of a Woman“ – liefen am Lido im Wettbewerb. Prompt erhielt die 32-jährige Schauspielerin den Preis als beste Darstellerin für ihre tragische Rolle in „Pieces of a Woman“, der ab Donnerstag auf Netflix abrufbar ist.
Im internationalen Filmgeschäft ist Vanessa Kirby längst keine Unbekannte mehr, im Gegenteil. Sie hat viele glamouröse Auftritte hingelegt: An der Seite von Tom Cruise, zum Beispiel, als Waffenhändlerin Weiße Witwe im letzten „Mission: Impossible – Fallout“ (2018). Auch in den beiden Fortsetzungen wird sie wieder mit dabei sein. Die Serien-Seher hingegen kennen Kirby aus den ersten beiden Staffeln von „The Crown“ (Netflix) als Prinzessin Margret, die glücklose Schwester der englischen Queen.
In „Pieces of a Woman“ aber zeigt sich die Britin von einer völlig neuen, unbekannten Seite. Es ist nicht die coole, selbstironische Fassade, die ihr Auftreten gerne bestimmt; stattdessen geht sie an die Grenzen der eigenen Gefühle – und ihrer Zumutbarkeit.
Lange Einstellung
„Pieces of a Woman“ beginnt mit einer Hausgeburt. Drei Menschen bewegen sich aufgeregt durch das schicke Apartment eines Bostoner Stadthauses. Eine junge Frau namens Martha (Kirby) ist gerade dabei, ihr erstes Kind zu bekommen. An ihrer Seite wachen der besorgte Ehemann (Shia LaBeouf) und eine eilends herbeigerufene Hebamme (Molly Parker).
Der ungarische Arthouse-Regisseur Mundruczó filmte die Geburtsszene über zwanzig Minuten lang in einer einzigen, atemberaubenden Einstellung. Mit der Kamera folgt er der gebärenden, stöhnenden Frau und ihren Helfern und zwingt, wie in einem präzisen Drahtseilakt, die unterschiedlichsten Emotionen zwischen Schmerz, Aufregung, Glück und Verzweiflung in seine Bilder.
Allein das Zuschauen dieser Szene erfordert Anstrengung. Wie erschöpfend muss diese Tour de Force dann erst für die Schauspielerin gewesen sein?
„Gar nicht erschöpfend“, strahlt Vanessa Kirby im KURIER-Interview: „Diese Szene ist meine Lieblingsszene aus allen Filmen, die ich in meinem Leben je gedreht habe. Ich komme ja vom Theater, und es fühlte sich an wie ein halbstündiges Theaterstück. Ich fand das unglaublich aufregend. Wie Fallschirmspringen.“
Vanessa Kirby lacht. Stellt sich heraus, dass sie im Alter von 18 Jahren in Südafrika Fallschirmspringen gegangen ist, weil „ich gerne Dinge tue, vor denen ich mich fürchte“.
Dazu gehört natürlich auch der Job als Schauspielerin, denn „es gehört schon ein gewisses Draufgängertum dazu, das Risiko auf sich zu nehmen, vor anderen Leuten als Idiot dazustehen. Oder zu versagen.“ Dasselbe gilt übrigens auch für Filmprojekte wie „Pieces of a Woman“, von dem Kirby anfänglich nicht wusste, wie sie sich ihm annähern sollte. Denn gleich nach der Geburt stirbt das Kind und lässt Martha und ihre Familie in tiefer Verzweiflung zurück.
Streubombe
Regisseur Mundruczó und seine Lebenspartnerin und Drehbuchautorin Kata Wéber basierten den Film auf dem eigenen Verlust ihres gemeinsamen Kindes und stellen größtmögliche Nähe zu ihren Figuren her. Die Trauer bindet die Familienmitglieder nicht zusammen, sondern sprengt sie wie eine Streubombe auseinander. Besonders die Beziehung zwischen Martha und ihrer Mutter, einer Holocaust-Überlebenden, erweist sich als extrem angespannt: „Kata Wéber, die Drehbuchautorin, die selbst auch das Kind von Holocaust-Überlebenden ist, wollte etwas über eine Generation erzählen, die ein kollektives Trauma zu verarbeiten hatte und diese Erfahrung an ihre Kinder weitergab. Martha hat gelernt, sich nicht unterkriegen zu lassen“, erzählt die Schauspielerin: „Mir war es in der Darstellung meiner Rolle besonders wichtig, nicht nur allgemein über eine Frau zu erzählen, die ihr Kind verliert, sondern sie in ihrer ganz speziellen Situation zu zeigen.“
Denn Marthas Reaktionen auf die schrecklichen Ereignisse entsprechen nicht dem, was die Umwelt von ihr erwartet. Sie sucht nicht den Trost ihrer Umgebung und lässt die Tränen nicht fließen. Stattdessen hält sie ihre Gefühle streng unter Kontrolle: „Das war für mich eine große Herausforderung“, gesteht Kirby: „Diese Form der Selbstkontrolle. Ich glaube, ich würde mich gegenteilig verhalten, mit so vielen Menschen, wie möglich sprechen und Hilfe suchen.“
Empathie-Muskel
Genau deswegen liebe sie ihren Job, sagt Vanessa Kirby mit echter Begeisterung: „Ich liebe es, mich in eine Figur hineinzuversetzen und zu verstehen, warum sie so fühlt, wie sie fühlt. Man entwickelt einen Empathie-Muskel für andere. Das war auch das Tolle an meiner Arbeit für ,The Crown‘: Ich spielte die Rolle der Prinzessin Margaret so lange, dass ich blind wusste, wie sie sich in jeder Situation verhalten würde. So gut kannte ich sie.“
Theater
Vanessa Kirby, geboren 1988 in Wimbledon, London, spielt seit 2009 am Theater. Sie liebt Rollen wie „Pieces of a Woman“ oder „The World to Come“, „weil sie einen Erzählbogen haben wie Stücke von Ibsen, Tschechow, oder Tennessee Williams. Ich hoffe, dass ich noch viele solche Arthouse-Filme machen kann.“
Lieblingsschauspielerinnen
Die Lieblingsschauspielerin von Vanessa Kirby ist Gena Rowlands, besonders in ihrer Rolle als Gangsterbraut „Gloria“, gefolgt von Lauren Bacall: „Diese Frauen sind so tough und so kompliziert. Es sollte viele solche Frauenrollen geben.“ Kirby träumt davon, ihre eigene Produktionsfirma zu gründen: „Es existieren so viele Geschichten von Frauen, die es zu erzählen gibt.“
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