Mit „Der vermessene Mensch“ ist nun der erste Kinofilm über den deutschen Genozid entstanden: „Die deutsche Kolonialgeschichte kennen bis heute nur sehr wenige Menschen“, erzählt Lars Kraume dem KURIER: „Sie ist kein Schulstoff und daher ein verdrängtes Kapitel. Ich fand es hoch an der Zeit, darüber den ersten deutschen Kinofilm zu machen.“
Auch der österreichische Schauspieler Peter Simonischek, der in „Der vermessene Mensch“ die Rolle eines rassistischen Wissenschafters übernommen hat, gibt unumwunden zu: „Ich muss ehrlich sagen, dass mir die deutsche Kolonialgeschichte nicht präsent war. Erst durch das Drehbuch und den Film habe ich in dieser Konsequenz davon erfahren.“
Simonischek spielt einen Professor namens Waldstätten, der an der Universität in Berlin die damals üblichen, abstrusen Rassenlehren verbreitet. Um die Überlegenheit der „weißen Rasse“ zu bestätigen, lässt er seine Studierenden die Köpfe der „Buschmänner“ vermessen.
„Ich kenne Peter Simonischek schon sehr lange und hatte noch nie eine Rolle, die ich ihm hätte anbieten können“, so Regisseur Kraume über seine Besetzungswahl: „Aber diesmal hatte ich eine und habe ihm das Drehbuch geschickt.“
Der österreichische Theater- und Filmschauspieler („Toni Erdmann“), seit 1999 Ensemble-Mitglied des Wiener Burgtheaters, ließ sich nicht lange bitten: „Ich habe das Drehbuch in einem Zug durchgelesen – und mir war klar, dass ich die Rolle des Professors spielen möchte“, meint Simonischek mit Nachdruck“: „Ich suche in meinem Alter nach Rollen, die politisch relevant sind und etwas erzählen, das über die reine Unterhaltung hinausgeht. Es kommt ja nicht oft vor, dass man so ein Angebot bekommt.“
Simonischek verkörpert den lavierenden Professor von Waldstätten in Anlehnung an den österreichischen Ethnologen Felix von Luschan – und spielt ihn mit großem Charme: „Daran ist mir auch viel gelegen“, bekräftigt Simonischek: „Der Waldstätten kommt auf den ersten Blick ganz harmlos und vernünftig daher. So sieht österreichischer Opportunismus aus.“
Lars Kraumes episch breiter Historienfilm basiert lose auf dem postkolonialen Roman „Morenga“ von Uwe Timm, der vom Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika handelt. In „Der vermessene Mensch“ wird allerdings aus der Perspektive eines jungen deutschen Ethnologen erzählt. Im Zuge seiner Forschungen reist er durch das Gebiet des heutigen Namibia. Während deutsche Soldaten mit unmenschlicher Härte den Vernichtungsbefehl ausführen, sammelt er Artefakte und Schädel der getöteten Herero.
Warum bis heute in Deutschland so wenig Bewusstsein für den Völkermord von damals herrscht, kann sich der Regisseur nur so erklären: „Die Deutschen haben sich jahrzehntelang mit dem Holocaust beschäftigt. Es gab keinen Platz mehr für das andere Unrecht, das auch noch passiert ist.“
Zudem hätten die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg 1919 alle Kolonien abgeben müssen. Als dann die großen, kolonialen Freiheitskriege wie der Vietnamkrieg, der Algerienkrieg oder die Befreiungskriege quer durch Afrika begannen, „hatten die Deutschen das Gefühl: Wir haben mit der Kolonialgeschichte nichts zu tun.“
Zwar würden seit dem Jahr 2014 immer wieder Schädel restituiert werden, so Kraume empört „aber wir reden von Tausenden von Schädeln. Warum werden die nicht alle sofort zurückgegeben und bestattet?“
Tatsächlich ziehen sich die Nachwirkungen bis in unsere Gegenwart hinein, wie auch „Der vermessene Mensch“ deutlich klarmacht: „Es war schockierend und ein Schlag in die Magengrube“, so Peter Simonischek: „Der Gedanke, dass die Totenköpfe der Herero heute und hier in Berlin im Museum liegen, hat mir den Rest gegeben.“
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