„Hör auf zu lügen“: Regisseur Olivier Peyon im Interview
Von Gabriele Flossmann
Der Film ist eine Rarität. Eine Lovestory, an der (fast) alles stimmt. Unterhaltsam und ebenso nachdenklich wie nachdenkenswert. In den queeren Programmleisten internationaler Filmfestivals – wie etwa in London und Berlin – erwies sich diese französische Verfilmung des autobiografischen Romans von Philippe Besson als das ganz große Highlight.
Besson zählt zu den produktivsten Schriftstellern Frankreichs. Aber sein eigenes Leben, sein Aufwachsen als Schwuler in der Provinz, seine erste und wohl auch größte Liebe, hat er nur einmal zu (s)einem literarischen Thema gemacht: Eine kurze Affäre, die aufgrund des gesellschaftlichen Umfelds keine Chance hatte. Denn wer in den 1970er-Jahren (nicht nur in Frankreich) auf dem Land aufwuchs, der hatte es schwer, seine Homosexualität zu akzeptieren – und erst recht offen zu leben.
Nach Filmen wie „Brokeback Mountain“ (2005), „Call Me by Your Name“ (2017) oder „Supernova“ (2020) ist „Hör auf zu lügen“ ein weiteres Beispiel für eine gleichgeschlechtliche Liebesgeschichte, die auf eine Weise erzählt wird, die universell berührt.
Im Mittelpunkt steht der Erfolgsautor Stéphane Belcourt, der eher widerwillig die Einladung eines Cognac-Herstellers annimmt, zu dessen 200-jährigem Jubiläum als Redner aufzutreten. Aber schließlich war er seit Jahrzehnten nicht mehr in seiner Heimatstadt. Kaum angekommen, holen ihn die Erinnerungen ein.
Bei aller Dramatik kommt die Komik nicht zu kurz. Die Wahrheit hinter all den Lebenslügen fügt der französische Regisseur Olivier Peyon in seinem Film wie Puzzlestücke aus Gegenwart und Vergangenheit aneinander.
KURIER: Philippe Besson ist an sich schwer zu verfilmen. Wegen der vielen Zeitsprünge und auch wegen der Länge der Geschichte. Was hat Sie daran fasziniert?
Philippe Peyon: Im Buch nimmt die Liebesgeschichte von Stéphane und Thomas in deren Jugendjahren den größten Raum ein. Mich hat aber die Beziehung zwischen dem schon älteren Stéphane und Lucas, dem Sohn von Thomas, mehr interessiert. So eine Geschichte wurde noch nie erzählt und das fand ich originell. Er ist aus meiner Sicht am meisten betroffen von der Lebenslüge seines Vaters. Er ahnte immer, dass er nicht das war, was man ein „Kind der Liebe“ nennt. Sein Schicksal ist daher auch universeller, denn er stellt sich Fragen, die sicher auch jedes Scheidungskind bewegen. Als ich das Drehbuch zu schreiben begann, nahm ich Kontakt zu Philippe Besson auf. Er war einverstanden. Was er jetzt über den fertigen Film denkt, weiß ich nicht. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. (lacht)
Warum hat Sie das Thema gereizt? Wollen Sie, dass junge Menschen aus der ja nicht so weit zurückliegenden Geschichte lernen und wachsam bleiben?
Als ich mit dem Casting für meinen Film begann, kamen auch viele Nicht-Schauspieler, die da mitmachen wollten. Junge Leute, die mir erzählten, dass ein Coming-out bis heute sehr schwierig ist. Denn immer noch wird ein Großteil ihres Lebens von Menschen bestimmt, die in den 1970ern und ’80ern aufgewachsen sind – also noch unter dem heteronormativen Druck der Gesellschaft. Auch mein eigenes Coming-out bereitete mir eine große Überwindung, denn plötzlich muss man sich dem Druck und dem Unverständnis der Gesellschaft und sogar von Freunden und Bekannten stellen. Dieser Druck existiert zum Teil immer noch. Denken Sie nur daran, wie sich die breite Öffentlichkeit verhält, wenn ein gleichgeschlechtliches Paar Kinder haben möchte. Bei einem lesbischen Paar wird das gerade noch geduldet. Aber zwei Männer, die ein Kind aufziehen möchten? Womöglich auch noch einen Buben? Das war mit ein Grund, warum mich die Beziehung zwischen Lucas und seinem Vater und letztlich zu Stéphane so interessiert hat. Eben weil es keine erotische Beziehung ist, sondern die eines Sohns, der den Vater nach dessen Tod noch näher kennenlernen will.
➤ Mehr lesen: Quotenkrise bei ORF-"Licht ins Dunkel": Zuseherschaft halbierte sich fast
Haben Sie deshalb Lucas mit dem Enkel von Jean-Paul Belmondo besetzt? Wollten Sie schon am Beginn des Films darauf hinweisen, dass diese Figur in den Mittelpunkt rücken wird?
Er hat sich selbst zum Casting für den Film gemeldet und da wurde mir schnell klar, dass er Starqualitäten hat. Das hatte und hat aber nichts mit seinem Nachnamen zu tun.
Sie sagen, dass Sie beim Casting und bei der Unterhaltung mit jungen Menschen immer wieder feststellen, dass es Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die nicht der sogenannten Norm entspricht, immer noch schwer haben. Worauf führen Sie das zurück?
Jede Minderheit hat es schwer in unserer Gesellschaft, die leider immer noch von Intoleranz beherrscht wird. Das betrifft nicht nur die sexuelle Orientierung, sondern jede Minderheit. Denken Sie nur an die Frauen in den USA, die jetzt gerade wieder für die Selbstbestimmung über ihren Körper, für das Recht auf Abtreibung kämpfen müssen. Jede Minderheit muss immer auf der Hut sein, weil mit dem Vorrücken rechter Bewegungen in Politik und Religion auch gewonnen scheinende Freiheiten wieder beschnitten oder gar bekämpft werden.
Regisseur
Olivier Peyon ist ein französischer Drehbuchautor und Filmregisseur, geboren am 23. Jänner 1969 in L’Haÿ-les-Roses, Frankreich. Er übersetzte englischsprachige Filme für den französischen Vertrieb, darunter Werke von Coen Brothers („Fargo“, „The Big Lebowski“) oder Stephen Frears („High Fidelity“)
Erster Spielfilm
Auf sich aufmerksam machte er mit dem Kurzfilm „Jingle Bells“ bei den Filmfestspielen von Venedig 1997. Sein erster Spielfilm war „Gestohlene Feiertage“ (Les Petites Vacances, 2007) mit Claude Brasseur. Bis zu seinem neuesten Film „Hör auf zu lügen“ drehte Peyon eine Reihe von Dokumentarfilmen
Kommentare