Harnoncourts größte Entdeckung

Nikolaus Harnoncourt, dem großen Dirigenten und Forscher, verdanken Musikliebhaber ja schon zahlreiche Einsichten. Etwa jene, dass die Champagner-Arie bei der Uraufführung so schnell gespielt werden musste, dass Don Giovanni außerstande war, diese auch zu singen, sondern sie nur sprechen konnte. Oder dass Mozart Sarastro nicht gemocht haben kann, weil er "Die Zauberflöte" in der prachtvollen Tonart Es-Dur, die Sarastro-Arie jedoch im laut Harnoncourt vergleichsweise schrecklichen E-Dur notierte.
Nun ging Harnoncourt mit einer Erkenntnis an die Öffentlichkeit bzw. auf das Konzertpodium, die er selbst als " Entdeckung meines Lebens" bezeichnet. Derzufolge seien die letzten drei Symphonien von Mozart, die Es-Dur-Symphonie (KV 543), die g-Moll- (KV 550) und die C-Dur-Symphonie (KV 551), ein gemeinsames Werk, nämlich ein "Instrumental-Oratorium", also eine völlig neue Gattung. "Mir ist kein besserer Begriff eingefallen."
Gewissheit
Belege für diese These gibt es laut Harnoncourt zuhauf: So beginne die Es-Dur-Symphonie mit einer Ouvertüre, eine richtigen Intrada, während die g-Moll-Symphonie nur mit einem "Gewaber" anfange und erst bei der C-Dur-Symphonie ein großes Finale folge. Mozart würde Themen und Motive durch alle drei Symphonien führen, quasi als Ur-Bausteine. Außerdem hätte Mozart alle drei 1788 innerhalb von sechs Wochen ohne Auftrag komponiert, nur der neuartigen Komposition wegen. Harnoncourt: "Vor zehn Jahren war das für mich eine Hypothese, heute ist es Gewissheit. Ich verstehe nicht, dass ich das je anders sehen konnte."

Die g-Moll-Symphonie sei einst auch der Grund für seinen Ausstieg bei den Symphonikern gewesen. "Ich wollte sie nie wieder so spielen." Ihm gehe es bei Aufführungen immer um neue Zugänge, "eigentlich dürften wir nur Uraufführungen spielen. Sonst gehen wir ja mit einer Blasiertheit ins Konzert."
Bei den Salzburger Festspielen hat Harnoncourt seine Erkenntnisse soeben mit dem Concentus Musicus vorgestellt, bei Sony sind sie auf CD erschienen. Gibt es für den 84-jährigen weitere Pläne für Salzburg? "Ich werde gefragt. Aber in meinem Alter ist man mit Zusagen sehr vorsichtig. Ich hätte gerne heuer in Salzburg Schuberts ,Fierrabras‘ gemacht. Oder vor einigen Jahren Bergs ,Lulu‘. Aber da musste ich wegen einer Operation absagen. So etwas tut mir wahnsinnig leid", sagt er zum KURIER.
Man muss Harnoncourts Ansicht, bei den letzten drei Mozart-Symphonien handle es sich um ein „Instrumental-Oratorium“, gar nicht zwingend teilen, um seine Interpretation aufregend und packend zu finden. Aber die Überzeugungskraft des Dirigenten ist enorm, vor allem wenn er zwischen der Es-Dur-Symphonie und der immer wieder verkitscht gehörten g-Moll-Symphonie keine Pause macht und so die Werke miteinander verknüpft. Da geht plötzlich das eine logisch in das andere über.
Unabhängig von der Frage, ob Oratorium oder drei Symphonien: Harnoncourts Konzert mit dem Concentus Musicus wurde bei den Salzburger Festspielen zu einem Ereignis, das vom Publikum mit Standing Ovations bedankt wurde. Harnoncourts Tempi sind so radikal, dass man in manchen Passagen von Werken sprechen muss, die annähernd an die berühmten Mozart-Symphonien erinnern. Man wartet jede Sekunde darauf, was der Dirigent als nächstes macht, welche Überraschung nach dem folgenden Bruch kommt. Dadurch macht er das Konzert spannend wie den besten Krimi. Das Orchester folgt seinen Vorstellungen, seinen Tragik-affinen Ideen in jeder Phase, Flexibilität und Klangkultur sind grandios. Man wünscht sich von vielen jüngeren Dirigenten einen Bruchteil von Harnoncourts Radikalität. Gut für das Verständnis, dass davor ein zehnminütiger Film, entstanden bei den Proben bei der styriarte, den neuen Ansatz erklärte.
KURIER-Wertung:
Kommentare