Goncourt-Gewinner: Kontrovers, weil so ohne Kontroverse

Wer schreibt heute noch so ein Buch?
Ein historischer 500-Seiten-Wälzer über eine scheinbar aussichtslose Liebe in Italien, sie adelig, er armer Bildhauer? In einer Zeit, wo andere Instagram-Zusammenfassungen, Autosoziobiografien oder Trauma-Bekenntnisse veröffentlichen, hat Jean-Baptiste Andrea mit seinem Jahrhundert-Liebesroman „Was ich von ihr weiß“ einen Bestseller gelandet und den Prix Goncourt abgeräumt. Letzteres alles andere als eindeutig. Er lag Kopf an Kopf mit Neige Sinnos „Trauriger Tiger“, einem der meistdiskutierten Bücher Frankreichs 2023. Ein Tatsachenroman, in dem die Autorin vom Missbrauch erzählt, den sie als Kind erlebt hat.
Ein Riesenerfolg, oft ausgezeichnet und für den Prix Goncourt nominiert. Gewonnen hat mit nur einer Stimme Vorsprung Jean-Baptiste Andrea. Lupenreine Erzählliteratur und im Gegensatz zu „Trauriger Tiger“ formal schön. Die Diskussion, was „große Literatur“ ist, war wieder einmal eröffnet. Ist „Was ich von ihr weiß“ große Literatur? Despektierlich könnte man es „Schinken“ nennen. Schön und sehr auserzählt (immerhin geht’s um ein ganzes Jahrhundert), etwas aus der Zeit gefallen. Eine opulente, im Ausdruck leicht altmodische Boy-meets-Girl-Geschichte samt schwieriger Familien und schöner Landschaft. Vielleicht ein bisschen konservativ. Man muss nicht aus allem ein Politikum machen.