Es begann mit einem Bild in ihrem Kopf, dem Bild von einem ungefähr 13-jährigen Buben. Er sieht komplett verdreckt aus, als käme er aus dem Wald, und marschiert direkt in seine Schule. Dort wird seine Mutter verständigt. Der Bub war tagelang verschwunden, seine Mutter ängstigte sich zu Tode. Sie stürzt herbei, und als sie ihr Kind im Lehrerzimmer stehen sieht, sinkt sie zu Boden und umklammert seine Knie.
Es ist ein Bild der Gnade und der Erlösung, wie es auch in der Gemäldegalerie hängen könnte – ein Ort, den die Figuren in „Ich war zuhause, aber ...“ ebenfalls aufsuchen.
Aber es ist nicht der Bezug zur Kunstgeschichte, den Schanelec hier sucht: „Ich habe mir überlegt: Was kann in der Begegnung zwischen Mutter und Sohn passieren? Und dann wusste ich keine andere Lösung, als dass sie vor ihm niederfällt. Es ist ein Bild, das aus der Situation heraus entstanden ist.“
Angela Schanelec befindet sich auf Wien-Besuch, wo im Rahmen der
Viennale ihr Gesamtwerk gezeigt wird und sie in intensiven Publikumsgesprächen ihre Zuhörer verblüfft. Die zierliche, deutsche Regisseurin, Jahrgang 1962, hat Schauspiel studiert, ist Shakespeare-Spezialistin und hat am Theater gearbeitet, ehe sie die Filmhochschule absolvierte. Ihre Stimme ist überraschend hoch, von weicher Professionalität und faszinierender Dringlichkeit – als würden hinter all ihren Aussagen Rufzeichen stehen.
Schanelec spricht sehr überlegt und sehr dezidiert. Manchmal schaut sie ihren eigenen Sätzen nach und ist nicht zufrieden mit dem, was sie gesagt hat; dann holt sie einzelne Worte wieder zurück – „Das ist falsch gesagt“ – und nimmt einen neuen, noch präziseren Anlauf.
Und sie denkt in wundersamen Bildern. In ihren Filmen entsteht eine eigene Bilderwelt, aus der heraus sich die Geschichten erzählen – und nicht umgekehrt. Ihre Filme sind auf Offenheit hin entworfen, verdichtet geschrieben und mit Auslassungen durchlöchert. Es liegt an uns, den Zusehern, die erzählerischen Lücken zu füllen, ein Prozess, der die Bilder umso eindrücklicher nachklingen lässt. In „Der traumhafte Weg“ (2016) trennt sich eine Frau von ihrem Mann mit wenigen Worten. Ursprünglich habe sie einen zehn Seiten langen Dialog geschrieben, erzählt Schanelec. Aber was sagt man bei einer Trennung, bei der es nichts mehr zu sagen gibt?
Übrig blieben fünf Sätze, aber der Eindruck ist immens.
„Ich war zuhause, aber ...“ erzählt von Astrid, einer verwitweten Hochschulangestellten, und ihren beiden Kindern. Schanelec entwirft Vignetten eines Berliner Alltags, der von den Schatten der Vergangenheit verdunkelt wird und zwischen Realitätsdruck und theatraler Spannung schwankt. Einmal kommt Astrid nach Hause und findet ihre kleine Tochter in der Küche, wo sie verbotenerweise mit dem Herd hantiert hat. Astrid flippt komplett aus, schreit ihre Kinder an und wirft sie aus der Wohnung.
Die Szene ist schon allein deswegen so großartig, weil sie nie aufhört, wenn man denkt, dass sie aufhört: „Wenn jemand austickt, ist das ein typischer, filmdramaturgischer Moment“, sagt die Regisseurin: „Das hat nichts mit dem zu tun, was ich erzählen will. Man denkt vielleicht, dass nach einem emotionalen Ausbruch etwas anders ist. Aber danach wird nichts anderes sein. Vielleicht ein halbes Jahr später, nachdem sich die Dinge wiederholt haben. Es ist ein Trugschluss, einzelne Ereignisse als Wendepunkte darzustellen. Die Dinge haben eine andere Dauer, als normalerweise filmisch erzählt wird.“
Eine andere Dauer hat auch David Bowies Song „Let’s Dance“, der in der komplett verlangsamten Version von M. Ward eine völlig neue Schönheit entfaltet: „Let’s dance. For fear that life is all“ – zu diesem Song flüchtet Astrid auf den Friedhof und rollt sich auf dem Grab ihres Mannes zusammen: Was, wenn es wirklich nichts gibt als das Leben? Und siehe da, plötzlich drängt sich eine kleine Wachtel zum Grab und kuschelt neben der schlafenden Astrid. Dieses Bild ist umwerfend, tieftraurig und tröstlich zugleich – und kann wohl nur Angela Schanelec einfallen.
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