Der KURIER hat den Komponisten, Performer, Literaten und bildenden Künstler, der am 12. Februar 95 Jahre alt wird, abends am Telefon erreicht. Er wirkt voller Tatendrang. „Ich war immer jemand, der gerne hart gearbeitet hat“, sagt er. Aktuelle Publikationen und eine für April geplante Ausstellung bildnerischer Arbeiten in der neuen Galerie Graz tragen zu seinem Wohlbefinden bei.
Gerhard Rühm hat die Geschichte der Wiener Avantgarde maßgeblich mitgeschrieben und er ist einer ihrer letzten Überlebenden. Was Rühm und seine Weggefährten allein im Bereich der Sprachkunst leisteten, war nicht nur für die damalige Zeit aufsehenerregend. Die Anerkennung im konservativen Nachkriegsösterreich war allerdings enden wollend. Die Mitglieder der „Wiener Gruppe“ – neben Rühm waren das Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Oswald Wiener und H. C. Artmann – waren aus dem offiziellen Kulturleben verbannte Einzelkämpfer. „Heute ist die ,Wiener Gruppe’ international verankert, man kommt um sie nicht mehr herum“, sagt Rühm.
Sohn eines Wiener Philharmonikers, studierte Gerhard Rühm Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie sowie beim Zwölftonkomponisten Josef Matthias Hauer. Bis auf Tanz war er in jeder Kunstsparte aktiv. Sein erstes Theaterstück schrieb er mit neun. „Ich habe nie etwas anderes gemacht als dichten, malen und Musik machen. Ich mache konsequent meine Arbeit, die ich für wichtig halte.“
Zu dieser Konsequenz gehörten auch die pechschwarzen Haare, die zu Gerhard Rühms optischem Markenzeichen geworden schienen. Seit dem Tod seiner Frau, der Musikwissenschaftlerin Monika Lichtenfeld, ist Gerhard Rühm weiß geworden.
KURIER: Herr Rühm, warum haben Sie aufgehört, Ihr Haar zu färben?
Gerhard Rühm: Das Haarefärben war ein Tick meiner Frau. Ich mochte das überhaupt nicht. Aber ich wollte häuslichen Frieden und habe mich gebeugt. Als sie gestorben ist, habe ich schlagartig aufgehört damit.
Sie sind nach wie vor sehr aktiv, als Künstler, aber auch als Kulturbeobachter. Was interessiert Sie?
Unlängst habe ich mir Arnold Schönbergs Konzert für Violine und Orchester mit Hilary Hahn angehört. Das war großartig. Im Unterschied zu meiner Jugend sind die Menschen heute begeistert von dieser Musik.
Demnächst soll es wieder eine Theaterperformance von Ihnen geben. Was wird das genau?
Das ist eine für mich sehr wichtige Sache. Seit Jahren habe ich einen Plan zur Erklärung der Menschenrechte. Jedes Wort soll von einem anderen Sprecher vorgetragen werden. Man braucht dazu bestimmt 1300 Sprecher. Das Ganze soll dann als geschlossener Text zusammengeschnitten werden. Man kann nicht oft genug daran erinnern, wie wichtig diese Schrift ist. Sie werden jetzt 95. Haben Sie noch Kontakt zu Weggefährten Ihrer Generation, Arnulf Rainer etwa?Mit Rainer war ich den 50er, 60er-Jahren eng befreundet, wir haben auch zusammengearbeitet. Anfangs haben wir uns gut verstanden, auch wegen eines gemeinsamen Interesses für ostasiatische Philosophie. Als er sich so christlich entwickelt hat, haben wir uns auseinander bewegt. Für mich spielt Buddhismus bis heute eine wichtige Rolle. Für monotheistische Religionen bin ich nicht zu haben. Die sind vollkommen undemokratisch.
Ein anderer Weggefährte ist Christian Ludwig Attersee.
Mit ihm bin ich nach wie vor sehr eng, wir haben gemeinsam viel erlebt. Ich habe immer noch einen schönen Freundeskreis. Aber mein Adressbuch muss ich jetzt neu anlegen, denn fast alle, die darin vorkommen, sind gestorben. Das ist das Traurige an meinem Alter, dass man viele seiner Freunde verliert.
Zuletzt Oswald Wiener?
Ja, genau. Und unlängst den Publizisten Gerhard Jaschke, der viel von mir herausgegeben hat.
Mit Oswald Wiener haben Sie in der Wiener Gruppe zusammengearbeitet. Stört es Sie, immer damit assoziiert zu werden?
Ich finde es schade, wenn nur davon die Rede ist. Das war eine Periode in meinem Leben, die sehr wichtig war. Aber inzwischen habe ich ja fast ein neues Leben gelebt. Die Wiener Gruppe hat sich nach dem traurigen Selbstmord von Konrad Bayer aufgelöst. Friedrich Achleitner wurde später ganz von seinen architektonischen Interessen verschlungen und Oswald Wiener hat sich auf philosophisch-sprachliche Themen spezialisiert. Wir haben uns als Gruppe auseinanderbewegt, was auch mit den örtlichen Bedingungen zu tun hatte. Ich habe ab 1964 in Berlin und anschließend eine ganze Weile in Köln gelebt.
Seit dem Tod Ihrer Frau 2023 leben Sie wieder in Wien.
Ja, und ich muss sagen, ich hab das fast schon wieder zu bedauern begonnen. Wenn ich die Entwicklung der FPÖ anschaue, wird mir übel. Und die ÖVP ist auch eine indiskutable Partei. Ich habe immer Grün gewählt. Aber Werner Kogler ist mir auch nicht angenehm. Und die SPÖ ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Sie waren in fast allen Kunstsparten aktiv. Gibt es etwas, das Sie nicht gemacht haben?
Nur Tänzer war ich nie. Und Ölbild habe ich auch keines gemalt.
Sie haben auch international mit vielen Künstlern zusammengearbeitet, etwa mit John Cage.
Ja, mehrmals. Er hat einmal die ganze Berliner Philharmonie bespielt, jeden Raum gleichzeitig, und hat mich eingeladen, einen Raum mit Klaviermusik zu füllen. Ich habe Alexander Skrjabin, einen meiner Lieblingskomponisten gespielt. Auch in New York sind wir gemeinsam aufgetreten. Da haben wir ein Hörspiel von mir aufgeführt, das hat ihm sehr gefallen. Ich bewundere, was er vollbracht hat. Ich finde, dass er in seiner Art für die zweite Jahrhunderthälfte so wichtig war wie Schönberg für die erste.
Was wollten Sie als Kind werden?
Ich wollte immer Musiker werden. Und ich habe früh zu schreiben begonnen. Mit neun habe ich fürchterliche Theaterstücke geschrieben. Die ersten literarischen Dinge, die ich heute gelten lasse, habe ich ab 1952 geschrieben. Damals hat meine Beschäftigung mit poetischen Texten begonnen. Es hat mich interessiert, die Entwicklung, die in der Musik und der bildenden Kunst stattgefunden hat, in der Poesie nachzuholen. Die Gedichte, die damals geschrieben wurden, waren ja alle sehr konventionell, so, als wären sie im 19. Jahrhundert entstanden. Ich wollte in der Poesie etwas Adäquates zur Neuen Musik machen.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich habe mit meiner Frau Sprechduette aufgeführt, eine Art von Literatur, die ich erfunden habe. Ich wollte ein Sprechduett über die Entwicklung des Menschen machen. Von der Geburt an. Wo eine Stimme den Geburtsakt nüchtern beschreibt und die andere eine lautmalerische Ebene dazu bringt. Das sollte sich auf einen ganzen Sprechchor ausweiten. Heißen soll das „Die Geburt eines Menschen.“ Die Arbeit daran habe ich begonnen, aber sie liegt irgendwo in Köln unter riesigen Bergen von Papier, ich muss sie erst wiederfinden. Dieses Projekt will ich unbedingt machen, weil die Entwicklung der Sprache der Entwicklung des Menschen entspricht.
Wenn man Ihnen zuhört, hat man das Gefühl, in Ihnen steckt nicht ein, in Ihnen stecken zehn Künstler.
Ich fühle mich auch manchmal so. Es läuft alles gut.
Sie wirken sehr aufgeräumt.
Ja, das bin ich, im Unterschied zu meinem Atelier. Ich bin leider ein bisschen chaotisch. Aber was Arbeit betrifft, ist es mir wichtig, dass alles durchdacht und ausgearbeitet ist.
Im mumok gibt es ein großes Programm zu Ihrem Geburtstag.
Ich habe meinen Geburtstag nie gefeiert. Dafür den meiner Frau immer eine Woche lang. Auf diesen Geburtstag freue ich mich jetzt insofern, weil über meine Arbeit gesprochen wird und ich neue Texte vortragen werde. Das macht mir dann doch Spaß. Vor allem freut es mich, dass Interesse an meiner Arbeit besteht. Das ist schön für mich.