Gaza-Krieg in Venedig: An der Schnittstelle zwischen Spielfilm und Wirklichkeit

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Gaza-Dokudrama schlägt am Lido hohe Wellen, Valeria Bruni Tedeschi spielt die gealterte Schauspiel-Diva Eleonora Duse.

Bislang gab es noch keinen klaren Favoriten im Wettbewerb um den Goldenen Löwen, doch das könnte sich ändern. Seit das tunesisch-französische Dokudrama „The Voice of Hind Rajab“ über ein in Gaza getötetes, palästinensisches Mädchen gezeigt wurde, schlagen die Wogen der Emotion am Lido hoch. Über 20 Minuten lange Standing Ovations wurden bei der Premiere gemessen, Hollywood-Größen wie Joaquin Phoenix und Partnerin Rooney Mara gingen persönlich über den roten Teppich, um ihre Unterstützung des Films zu bekunden.

Der Krieg in Gaza wurde zwar immer wieder – vor allem während einer pro-palästinensischen Demonstration am vergangenen Wochenende – in Venedig zum Thema gemacht, sorgte aber für weit weniger Kontroversen im Verlauf des Festivals als angenommen. Mit der Programmierung von „The Voice of Hind Rajab“ im Wettbewerb nahm Venedig-Chef Alberto Barbera seinen Kritikern den Wind aus den Segeln, er würde dem Gaza-Konflikt nicht genügend diskursiven Raum geben.

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Mischung aus Doku und Realität: "The Voice of Hind Rajab“

In „The Voice of Hind Rajab“ rekonstruiert die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania mit einer Mischung aus dokumentarischen und fiktionalen Mitteln die letzten Stunden der sechsjährigen Hind Rajab Hamada am 29. Jänner 2024. Eingeklemmt zwischen den Leichen mehrerer Familienmitglieder in einem von der israelischen Armee beschossenen Auto, kann sie Telefonkontakt zu Mitgliedern des Roten Halbmondes in Ramallah herstellen.

Die dokumentarischen Aufnahmen einer verängstigten Kinderstimme, die flehentlich um Hilfe ruft, sind authentisch und herzzerreißend; ein engagiertes Darsteller-Ensemble allerdings spielt die Interaktionen der verzweifelten Notrufhelfer so hoch emotionalisiert nach, dass es fast schon wieder ablenkend wirkt. Gezielt verengt Kaouther Ben Hania ihre Erzählperspektive auf das Innere der Bürozentrale und blendet die Außenwelt weitgehend weg. Dadurch macht sie einen scheinbar politikfreien Raum zum spektakulären Schauplatz des Mitgefühls – und zu einem potenziellen Preisträger des Festivals in Venedig.

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Valeria Bruni Tedeschi als "Duse“ von Pietro Marcello.

Die Duse

Mit dem italienischen Star-Regisseur Paolo Sorrentino und seinem Politikerporträt „La Grazia“ hatte Barbera die 82. Filmfestspiele eröffnet, nun legt er gegen Ende hin mit weiteren Beiträgen aus Italien im Wettbewerb nach. Zu Unrecht umstritten wird „Duse“, Pietro Marcellos flamboyante Hommage an die italienische Schauspielerin Eleonora Duse (1858–1924), deren Theaterkunst als legendär galt. Marcello konzentriert sich auf die gealterte Duse, kongenial intensiv und grauhaarig verkörpert von Valeria Bruni Tedeschi. Angestachelt von ihrer Konkurrentin Sarah Bernhardt, will „die Duse“ trotz angeschlagener Gesundheit ein Comeback wagen. Ähnlich wie in seinem Glanzstück „Martin Eden“, interessiert sich Pietro Marcello für die Umbrüche der Jahrhundertwende um 1900 und – mit Blick auf die Gegenwart – die prekäre Position einer Künstlerin an der Schnittstelle zum Faschismus.

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